Ab sofort zählt laut EU-Kommission jeder Tag, um weitreichende Schritte zur Reduzierung des Gasverbrauchs zu setzen.

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Ob in der Europäischen Union in einer Krise nur Handlungsbedarf besteht, oder ob in Wahrheit schon der Hut brennt, das kann man bei Erklärungen der EU-Kommission oft schon an Zahl und Rang der Spitzenleute erkennen, die bei Pressekonferenzen ausrücken. Im Fall der Drohungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die Gaslieferungen nach Europa ganz einzustellen, schien am Mittwoch nach der Sitzung des Kollegiums klar: Der Union und ihren 27 Mitgliedsstaaten stehen bis Herbst schicksalhafte Wochen und eine Art Notstandsregime bevor, wenn man nicht sofort und gemeinsam mit einem "EU-Gasnotfallplan" gegensteuert.

Ab sofort zähle jeder Tag, um weitreichende Schritte zur Reduzierung des Gasverbrauchs zu setzen, in der Industrie genauso wie in Haushalten und öffentlichen Einrichtungen. Zunächst auf freiwilliger Basis sind die Regierungen der EU-Länder dazu aufgefordert, den Gasverbrauch insgesamt um 15 Prozent zu senken. Jede und jeder müsse maximale Beiträge leisten. Jenen Staaten, die aufgrund besonders hoher Abhängigkeit von russischem Gas dabei Probleme haben, müsse von den anderen solidarisch unter die Arme gegriffen werden.

Dann, und nur dann "werden wir problemlos über den Winter kommen", sagte Präsidentin Ursula von der Leyen. Moskau setze Erdgas als Waffe ein, man müsse damit rechnen, dass die russischen Lieferungen ganz eingestellt werden.

Die Deutsche war gemeinsam mit ihrem ersten Vizepräsidenten und "Klimamann" Frans Timmermans vor die Mikrofone getreten, bei fast 40 Grad Außentemperatur im vollklimatisierten Berlaymont-Gebäude, flankiert von Thierry Breton (Industrie, Binnenmarkt) und Energiekommissarin Kadri Simson. Sollte heißen: Die ganze Macht der EU-Kommission steht hinter dem präsentierten Plan, der bis zum Jahr 2023 die Abhängigkeit von Moskau dramatisch reduzieren soll.

Zuerst freiwillige Maßnahmen

Wie dringlich das ist, zeigt auch der Zeitplan zum weiteren Vorgehen. Bereits nächste Woche werden sich die 27 Energieminister in der EU-Hauptstadt treffen, um mit qualifizierter Mehrheit über das Paket abzustimmen. Elf EU-Staaten haben eine Frühwarnstufe ausgerufen, Deutschland eine Notfallwarnung.

Auf den ersten Blick sehen die vorgelegten Maßnahmen und Empfehlungen an die Staaten und Bürger harmloser aus, als sie es vom Potenzial her sind. Die Staaten sollen die Einsparung von 15 Prozent ihres Gasverbrauchs auf "freiwilliger Basis" erreichen, etwa indem öffentliche Gebäude im Winter auf maximal 19 Grad beheizt werden oder indem der Umstieg auf erneuerbare Energie mit Volldampf betrieben wird. Als Referenz wird dafür der jeweilige Landesverbrauch in den vergangenen fünf Jahren seit 2016 in den Monaten August bis März herangezogen.

Manche Länder wie Finnland (minus 54 Prozent) oder die Niederlande (minus 20) erfüllen das schon heute. Andere sind davon weit, weit weg, weshalb die Kommissionspläne bei manchen Nationalstaaten sofort auf Ablehnung stießen. Die Kommission hofft dennoch auf Vernunft, dass "wir wie in der Pandemie gemeinsam vorgehen", sagte Ursula von der Leyen.

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Im Notfall Zwangsmaßnahmen

Aber was wäre, wenn das auf freiwilliger Basis nicht gelingt, wenn die Gaslager nicht so schnell wie möglich bis spätestens Oktober EU-weit auf 80 Prozent gefüllt werden können? Für diesen Fall sieht die Kommission einen Notfallplan auf Basis von Artikel 122 der EU-Verträge vor, der in der Geschichte noch nie eingesetzt wurde: ein Durchgriffsrecht der Kommission auf die Staaten. Die Einsparziele bei Gas würden dann für alle EU-Staaten obligatorisch. Die Kommission könnte diese Verpflichtung erzwingen und würde dann auch Vorschläge machen, wie das gehen soll, bis hin zum Abschalten von einzelnen Sektoren der Industrie, um die Energieversorgung der Bevölkerung abzusichern, ein Einbrechen des Binnenmarkts zu verhindern.

Die EU als Ganzes könnte im Winter in eine Energienotlage kommen, wenn nicht sofort gehandelt wird. Bei Inflationsraten, die durch die Bank an die zehn Prozent heranreichen, drohe ein Wirtschaftseinbruch, eine Rezession, warnte Breton. Das führte in der Folge zu sozialen Abstürzen in der Bevölkerung.

"Alle Staaten" wären durch die enge Verflechtung davon betroffen, setzte von der Leyen hinzu. Aber ein solches Notfallszenario müsse eben durch gemeinsames Vorgehen, wie man das bereits in der Corona-Krise ab 2020 gezeigt habe, verhindert werden, betonte sie. Berechnungen der Kommission hätten ergeben, dass man auch einen Totalstopp russischer Gaslieferungen überstehe, wenn die Einsparziele erreicht werden. Je länger man warte, desto teurer werden die Folgen. Das Problem dabei: Die Staaten sind sehr unterschiedlich stark betroffen, je nachdem, welche Energiepolitik sie bisher betrieben. (Thomas Mayer, 20.7.2022)