Es ist ein historischer Moment für die EZB: Präsidentin Christine Lagarde beendet die Nullzinsphase in der Eurozone.

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Nach etwas mehr als sechs Jahren und vier Monaten ist die Nullzinsphase in der Eurozone zu Ende. Der Leitzins beträgt nunmehr 0,5 Prozent, gab die Europäische Zentralbank (EZB) bekannt. "Der Rat der EZB hält es für angebracht, einen größeren Zinsschritt zu setzen", sagte Präsidentin Christine Lagarde am Donnerstag. Damit erhöht die Notenbank zum ersten Mal seit elf Jahren wieder das Zinsniveau in der Währungsunion, um die hohe Inflation in den Griff zu bekommen.

Ebenfalls um 0,5 Prozentpunkte angehoben wurde der Minuszins für Banken, der nun null Prozent für Einlagen bei der Notenbank beträgt. Dieser Schritt dürfe vor allem deutsche Bankkunden freuen, die im Gegensatz zu Österreich bisher teilweise für Spareinlagen Strafzinsen berappen mussten. Zudem wurde ein Hilfsprogramm für schwer verschuldete Mitgliedsstaaten mit dem Namen TPI (Transmission Protection Instrument) beschlossen.

Serie großer Schritte

"Es ist gut, dass sich die EZB heute zu einem großen Zinsschritt von einem halben Prozentpunkt durchgerungen hat", kommentierte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer die EZB-Entscheidung. "Aber das kann nur ein Anfang sein." Der Euroraum mit seinem tiefgreifenden Inflationsproblem brauche eine Serie großer Zinsschritte. Bastian Hepperle von der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank erklärte: "Letztlich war der Inflationsdruck doch zu groß und die Inflationsaussichten zu schlecht, sodass sich der EZB-Rat zu einem großen Leitzinsschritt durchgerungen hat."

Bereits im Vorfeld der Zinssitzung wurde spekuliert, ob wegen der Rekordteuerung von 8,6 Prozent im Juni in der Eurozone ein größerer Schritt um einen halben Prozentpunkt gesetzt werden sollte. In Aussicht gestellt hatte EZB-Chefin Lagarde bei der vergangenen Zinssitzung jedenfalls nur einen Schritt um einen Viertelprozentpunkt.

Drohende Rezession

Aber es ist klar, dass es wohl nicht bei einem Zinsschritt bleiben wird. Die weitere "Normalisierung der Zinsraten" werde datengetrieben erfolgen, um das Inflationsziel von zwei Prozent zu erreichen, sagte Lagarde. Für Konsumenten bedeutet dies zwar tendenziell höhere Zinsen auf Spareinlagen, aber auch teurere Kredite. Dem Vergleichsportal Durchblicker zufolge steigen die Kreditzinsen hierzulande bereits seit einiger Zeit.

Im Kampf gegen die hohe Inflation sollen steigende Zinsen auch die Nachfrage nach Krediten drosseln. Auf der anderen Seite stellen sie auch eine Unterstützung für den schwächelnden Euro dar, der in der Vorwoche erstmals seit 2002 zeitweise unter die Dollar-Parität gerutscht war. Dadurch kommt es zu importierter Inflation bei Einfuhren aus dem Dollar-Raum oder bei wichtigen Rohstoffen wie Erdöl, die meist in der US-Währung abgerechnet werden. Die Kosten steigen, da Importeure aus der Eurozone erst immer teurere Dollar erwerben müssen.

Für die Notenbank sind Zinserhöhungen aber auch mit zwei Unsicherheitsfaktoren verbunden. Drückt sie im Kampf gegen die Inflation zu stark auf die geldpolitische Bremse, droht der Eurozone das Abrutschen in eine Rezession. Der US-Vermögensverwalter Vanguard rechnet etwa mit einer 60-prozentigen Wahrscheinlichkeit mit einer Phase negativen Wachstums in der Eurozone in den nächsten zwei Jahren.

Damoklesschwert Italien

Noch größeres Ungemach würde jedoch eine neuerliche Schuldenkrise in der Eurozone wie vor zehn Jahren nach sich ziehen – das will die EZB-Spitze auf keinen Fall zulassen. Deshalb hat sich der EZB-Rat um Lagarde auf das neue TPI-Programm geeinigt, das zu steile Zinsanstiege stark verschuldeter Mitglieder wie Italien, wo noch dazu in der vergangenen Woche eine Regierungskrise ausgebrochen ist, oder Griechenland unterbinden soll. Gezielte Anleihenkäufe von Staatsanleihen gefährdeter Länder sollen dies unterbinden.

"Das TPI wird das Instrumentarium des EZB-Rats ergänzen und kann aktiviert werden, um ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamiken entgegenzuwirken, die eine ernsthafte Bedrohung für die Transmission der Geldpolitik im Euroraum darstellen", erklärte die Notenbank. "Der Umfang von Ankäufen im Rahmen des TPI hängt von der Schwere der Risiken für die geldpolitische Transmission ab." Lagarde zufolge kann jedes Land der Eurozone in den Genuss des Programms kommen. Es sei für spezielle Situationen und Risiken geschaffen worden, die jeden Staat treffen könnten.

Eine Manövriermasse dafür könnten die inzwischen beendeten Anleihenkaufprogramme der EZB darstellen. In deren Rahmen hat die Notenbank etwas mehr als fünf Billionen Euro an Schuldverschreibungen in der Bilanz, die bis 2024 ohnedies reinvestiert werden sollen, wenn Anleihen getilgt werden. Im Zuge dessen könnten speziell Titel von Ländern wie Italien, das Staatsschulden in Höhe von 151 Prozent der Wirtschaftsleistung angehäuft hat, gekauft werden.

Kritik an Zögerlichkeit

Bereits öfters wurde die EZB dafür kritisiert, zu spät und zaghaft mit Zinserhöhungen gegen die Inflation vorzugehen. Tatsächlich ist sie früher dran als ursprünglich geplant. Zu Jahresbeginn wollte Lagarde erst gegen Ende des Jahres die Zinsen erhöhen, dann im September, nun ist es wegen der ausufernden Teuerung doch schon Juli geworden – und noch dazu ein größerer Zinsschritt um einen halben Prozentpunkt. Auffallend war dabei, dass sich die von der EZB zugrunde gelegten, eigenen Inflationsprognosen bald als falsch, weil zu niedrig erwiesen haben.

Dennoch könnte Lagarde als EZB-Präsidentin eine Serie durchbrechen. Ihre Vorgänger sind immer mit einem deutlich tieferen Leitzins in die Amtszeit gestartet als bei deren Ausscheiden. Wohl ist sie von null Prozent aus gestartet, aber bisher sieht es so aus, als würde bei der 66-jährigen Französin das Gegenteil eintreten. (Alexander Hahn, 21.7.2022)