Europa erlebt wieder einmal Rekordtemperaturen, Dürre und Waldbrände. Damit die Botschaft sickert, wie ernst es um unseren Planeten steht, muss etwas akut Schlimmes passieren, meint der Physiker Ernst Ulrich von Weizsäcker.

STANDARD: Wir spüren gerade, wie stark sich Europa vom Gas abhängig gemacht hat. Birgt das eine Chance für eine energiepolitische Kehrtwende?

Von Weizsäcker: Für die ärmeren Menschen ist es schlimm, wenn man ihnen nicht staatlich hilft. Für den Klimaschutz ist all das ironischerweise gut. Man kann durch Energieeffizienz aus einer Kilowattstunde viel mehr herausholen, als man es heute tut. Man machte es nicht, weil die Energie billig war. Jetzt auf einmal interessieren sich Industrie, E-Werke, Handwerker und Familien für Energieeffizienz.

STANDARD: Zugleich wird aber auch über eine Verlängerung der Nutzung von Kohle- und Atomkraft gesprochen.

Von Weizsäcker: Das ist für Manager das Plausibelste, weil man damit jahrzehntelange Erfahrung hat. Bis auf die fürchterlichen Unfälle und den Klimaschutz hat es ja funktioniert. Kohle ist, glaube ich, in anderthalb Jahren von heute wieder weg, weil Photovoltaik viel billiger ist. Bei Atomenergie gilt genau das Gleiche. Ich finde es furchtbar, dass Macron versucht, über den EU-Umweg Finanzierung für Atomenergie zu bekommen. Das ist ein politischer Fehler. Atomenergie ist physikalisch gesehen nahe an Atomwaffen.

"Österreichs Klimapolitik ist physikalisch gesehen für das Weltklima egal", sagt von Weizsäcker.
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STANDARD: Auch in Österreich soll ein Kohlekraftwerk reaktiviert werden. Was halten Sie davon?

Von Weizsäcker: Es verzögert den Klimaschutz, keine Frage, und macht mich traurig. Aber gleichzeitig weiß ich, dass die Wählerschaft anders denkt als Umweltschützer. Und in einer Demokratie muss man auch auf die Wählerschaft achten.

STANDARD: In Deutschland soll sogar ein neues Flüssiggasterminal gebaut werden. Verfestigt das nicht einen fossilen Pfad?

Von Weizsäcker: Ich bin zuversichtlich, dass die Russland-Ukraine-Krise innerhalb von höchstens fünf Jahren, vielleicht fünf Monaten in sich zusammenstürzt. Dann werden alle Leute sagen: So, jetzt ist Schluss! Dass man Kohle, Öl und Erdgas wieder als Standard einführen wird, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Mit Photovoltaik kann kein fossiler Brennstoff konkurrieren.

STANDARD: Sie haben in der Vergangenheit für eine Aufwärtsspirale der Energiepreise im Sinne des Klimaschutzes plädiert. Durch den Krieg sind die Preise nun stark gestiegen.

Von Weizsäcker: Was ich immer schon gesagt habe: Man sollte Energie pro Jahr um so viel Prozent teurer machen, wie im abgelaufenen Jahr die Energieeffizienz zugenommen hat. Was das Volk berechtigterweise nicht schätzt, ist der Schock.

STANDARD: Was sagt man jenen, die derzeit unter den hohen Preisen ächzen?

Von Weizsäcker: Ich würde das zu einem erheblichen Teil als Psychologie bezeichnen. Man schimpft einfach gerne auf die Regierung, wenn etwas teurer wird. Vor 30 Jahren war die Energie so teuer, wie sie jetzt wieder geworden ist. 200 Jahre lang sind Energie und Primärrohstoffe ständig billiger geworden, aber kaum etwas wurde teurer. Das haben die Leute einfach eingesackt. Jetzt gibt es den großen Radau. Ich will mit dieser etwas übertriebenen Schelte nicht sagen, dass man nicht politisch ein gutes Stück gegensteuern muss. Da gibt es zwei Optionen: Der Staat kann Geldströme zu den armen Haushalten schicken. Oder man macht Energie künstlich wieder billiger und deckelt zum Beispiel die Preise. Erstes halte ich für sozial und klimapolitisch richtig. Einen Preisdeckel halte ich für klimapolitisch falsch. Er führt dazu, dass das Vergeuden von Energie einfach schnurstracks weitergeht.

Der Krieg in der Ukraine hat die Diskussion um eine Verlängerung der Kohlekraftnutzung aufleben lassen. Langfristig können Fossile nicht mit Photovoltaik mithalten, meint Ernst Ulrich von Weizsäcker.
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STANDARD: Stichwort Energie vergeuden: Wir emittieren immer mehr. Wie lange geht sich das noch aus?

Von Weizsäcker: Die Pariser Klimaziele gelten für alle. Aber die meisten Länder kümmern sich nicht darum. In Wirklichkeit ist der Pro-Kopf-Verbrauch in den USA wesentlich höher als in Österreich. Geschimpft wird dann auf Österreich.

STANDARD: Österreichs Emissionen sind auf dem Niveau von 1990.

Von Weizsäcker: Ja, das ist richtig. Ich schimpfe auch manchmal, nur finde ich, man muss auch die Kausalität und den fairen Vergleich mit anderen Ländern wahrnehmen. Österreichs Klimapolitik ist physikalisch gesehen für das Weltklima egal. Ich bin sehr dafür, dass Österreich und Deutschland gute Klimapolitik machen. Wenn man aber nicht gleichzeitig Entwicklungsländern hilft, dass sie reicher werden, dann nutzt es der Weltklimabilanz wenig. In Indien, Mexiko oder Nigeria ist ein neues Kohlekraftwerk eine Lizenz zum Gelddrucken.

STANDARD: Das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen wird immer unwahrscheinlicher. Was bedeutet das konkret?

Von Weizsäcker: Es ist sehr schwer, das in Zahlen auszudrücken. Die größte Gefahr ist, dass die Antarktis anfängt, ernsthaft zu zerbröckeln. Dann steigt der Meeresspiegel um bis zu 20 Meter – und nicht nur Venedig ist unter Wasser, sondern auch Amsterdam, Hamburg, Kopenhagen, Helsinki und London. Da werden Hafenstädte, in denen weltweit mehr als eine Milliarde Menschen leben, in allergrößte Schwierigkeiten kommen.

STANDARD: Wir erleben derzeit wieder einmal Hitze, Dürre und Waldbrände: Wie weh muss es tun, bis die Botschaft sickert?

Von Weizsäcker: Typischerweise reagiert das Volk und damit die Wählerschaft und damit die Regierung und damit die Wirtschaft immer dann, wenn etwas akut Schlimmes passiert. Kernenergie ist da ein gutes Beispiel: Fast alle, mit Ausnahme von Österreich, waren der Meinung: Kernenergie mögen sie nicht sonderlich, aber es ist eben die billigste und vernünftigste Energieform. Dann kam Tschernobyl. Und plötzlich haben alle gesagt: Jetzt ist Schluss mit der Kernenergie.

STANDARD: Braucht es wieder eine große Klimaschutzbewegung? Es wirkt, als wäre das Momentum vorbei.

Von Weizsäcker: Vorbei ist, dass man jede Woche am Freitag auf die Straße geht. Das kommt nicht wieder. Ich fände es ja gut, wenn die Proteste wieder größer werden. Psychologisch gesehen wird das erst dann in Gang kommen, wenn es Anzeichen von Katastrophen gibt.

Der Umweltforscher würde es begrüßen, wenn die Klimaproteste wieder größer werden.
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STANDARD: Sie haben in der Vergangenheit argumentiert, dass es für das Klima von Vorteil wäre, das Bevölkerungswachstum einzuschränken. Wie könnte das aussehen?

Von Weizsäcker: Also für den Planeten Erde ist die Bevölkerungsvermehrung die reine Katastrophe. In Europa, einschließlich der Mittelmeerländer, ist der Rückgang von selbst gekommen. In Ostasien, in Japan, ebenfalls in China. Dort wurde von der Regierung gesagt, mehr als ein Kind geht nicht. Das wurde mittlerweile wieder aufgehoben, weil sie gemerkt haben, dass die Maßnahme so wahnsinnig wirksam war. Aus Gründen der Finanzierung der Pensionen braucht man auch ein bisschen Nachwuchs. China kommt nie wieder auf über zwei Kinder pro Familie. Anders sieht es in Afrika und im arabischen Raum aus. Da gibt es eine Ungerechtigkeit gegenüber Frauen. Sie kriegen keine vernünftige Bildung, keine vernünftigen Berufe, werden nicht wirklich geachtet. Dann bleibt ihnen nichts anderes übrig, als Kinder zu kriegen.

STANDARD: Viele Kinder bedeuten für Familien oft auch eine finanzielle Absicherung.

Von Weizsäcker: Genau das ist der Punkt. Wenn ein junges Ehepaar sich überlegt, ob sie Kinder wollen, sagen die automatisch: Ja, selbstverständlich, denn die müssen uns ernähren, wenn wir alt sind. Das ist in gewissem Sinne richtig, weil viele afrikanische Länder so arm sind, dass sie sich kein Pensionssystem leisten können. Deswegen sollten wir Europäer den Afrikanern finanziell helfen, ihnen eine halbwegs erträgliche Altersversorgung finanzieren. (Nora Laufer, 21.7.2022)