Die frühere Bundesrätin und Bundespräsidentin Ruth Dreifuss das Außenministerium, kritisierte das Vorgehen scharf.

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Die Weigerung der Regierung in Bern, im Krieg verwundete Soldaten aus der Ukraine, aber auch ganz generell Zivilisten in medizinischen Notfällen zur Behandlung in Schweizer Spitälern aufzunehmen, sorgt weiterhin für Aufregung, national wie international.

Es sei "besonders schockierend", dass auch Zivilisten nicht geholfen werde mit der Begründung, man könne sie nicht klar von Soldaten unterscheiden, kritisierte die frühere Bundesrätin und Bundespräsidentin Ruth Dreifuss das Außenministerium, das die Entscheidung verantwortet. "Die Pflicht, Kranke und Verwundete, Militärs oder Zivilisten, zu versorgen, die aufgrund eines Krieges nicht versorgt werden können, muss Vorrang vor allen anderen Überlegungen haben", sagte sie dem "Tagesanzeiger", der den Fall aufgedeckt hatte. Peinlich ist dies inzwischen vielen Politikern in der Schweiz nicht zuletzt wegen des Umstandes, dass das Internationale Rote Kreuz mit Sitz in Genf genau wegen dieser humanitären Haltung im Jahr 1863 ins Leben gerufen worden war. Dazu die 82-jährige Sozialdemokratin Dreifuss: "War das nicht die Botschaft von Henri Dunant auf dem Schlachtfeld von Solferino?"

Kritik aktiver Politiker

Das schmerzt aktive Politiker in Bern wie den Chef der Freisinnigen (FDP), Thierry Burkart, dessen Partei mit Ignazio Cassis den Außenminister stellt. Er findet jetzt, dass die Schweiz auch Soldaten aufnehmen sollte. Wie berichtet, hat das Außenministerium ein Ansuchen auf Übernahme von Verwundeten aus der Ukraine abgelehnt.

Eine Koordinationsstelle der Nato hat es im Mai gestellt, wobei es darin nicht speziell um Soldaten ging, sondern alle Ukrainerinnen und Ukrainer, die zu Hause medizinisch nicht ordentlich behandelt werden können. Als Begründung führte das Cassis-Ressort an, eine Versorgung sei wegen der Neutralität des Landes nicht möglich. Das Haager Abkommen und die Genfer Konvention würden es verbieten, Soldaten zu behandeln, die dann wieder in den Krieg zurückkehren könnten. Die Erklärung, dass man in der Ukraine nicht zwischen Soldaten und Zivilisten unterscheiden könne, feuerte die Debatte weiter an.

EU organisiert Transporte

Mehrere Kantonsspitäler hatten sich zur Aufnahme bereiterklärt. Der Vorgänger von Cassis als Außenminister, der Sozialdemokrat Didier Burkhalter, wies diese Begründungen ebenfalls zurück: "Die Aufnahme von Flüchtlingen habe nichts direkt mit der Neutralität zu tun", sagte der dem "Tagesanzeiger". Er hatte 2011 und 2013 44 Verwundete aus Libyen aufgenommen. Dass die Neutralität die Aufnahme von Kriegsverwundeten nicht ausschließt, zeigt Österreich. Kanzler Karl Nehammer sagte der ukrainischen Regierung im Mai 100 Plätze in österreichischen Spitälern zu. Drei Menschen wurden bisher behandelt.

Unproblematisch ist das, weil das Ausfliegen von ukrainischen Verwundeten im Rahmen des EU-Zivilschutzmechanismus (UCPM) organisiert wird, mit Partnern wie der Nato und auch Neutralen. Die EU hat Norwegen ein Ambulanzflugzeug bezahlt. Das läuft so, dass die Ukraine Patienten in eine EU-Datenbank meldet. Nach medizinischer Abklärung werden alle beteiligten Staaten informiert. Sobald ein Staat sich bereiterklärt, jemanden aufzunehmen, wird das direkt mit der Ukraine abgewickelt, in Österreich federführend vom Innenministerium. Seit Kriegsbeginn sind etwa 850 Menschen aus der Ukraine in europäische Spitäler gebracht worden.

Aufnahme von kranken Kindern zugesichert

Nach einem Veto aus dem Außenministerium sollen Kinder medizinische Hilfe in der Schweiz bekommen. Bewegung in die Sache hat offenbar ein Brief der ukrainischen Botschaft gebracht. Botschafter Artem Rybtschenko garantierte darin laut einem Bericht des Fernsehsenders SRF, dass kein Militär zur militärischen Behandlung in die Schweiz gelassen werde.

Der Schweizer Außenamts-Vizestaatssekretär Johannes Matyassy erklärte die Kehrtwende der Regierung so: Als bei der Schweiz eine von der NATO kommende Anfrage eingegangen sei, habe es geheißen, die Ukraine bestimme, wer als verletzte Person ins Ausland geschickt werde. Die Schweiz hätte also nicht kontrollieren können, ob ein Militär dabei gewesen wäre. Dies sei nun anders.

Laut der "Tagesschau" des SRF konkretisierte die ukrainische Seite ihre Anfrage. Demnach wird um die Aufnahme von 155 Kindern aus dem kriegsgeplagten Land gebeten, die sich in schlechtem Gesundheitszustand befinden. Der Ball liege nun beim Bundesamt für Gesundheit (BAG), das entscheiden müsse. (Thomas Mayer, red, 20.7.2022)