Nach einer Stunde musste die Premiere unwetterbedingt abgebrochen werden. Etwa ein Viertel der Zuseher durfte vom Freien ins Festspielhaus übersiedeln.
Foto: APA / STIPLOVSEK DIETMAR

Der Wechsel bestimmt den Lauf der Welt. Auf Sonne folgen Gewitter und Regen. Auf dem Gebiet der Liebe wandelt sich höchstes Glück oft in abgrundtiefe Verzweiflung. Auch beim Bregenzer Spiel auf dem See hat Intendantin Elisabeth Sobotka für Abwechslung gesorgt. Auf Philipp Stölzls Rigoletto als knallbuntes Zirkusspektakel, Horrorclown inklusive, lässt die Wienerin nun ein dezent in Szene gesetztes Kammerspiel folgen. Ein zerknittertes, 300 Tonnen schweres Blatt Papier ist vor die 7.000 Sitzplätze der Seetribüne geweht worden (Bühne: Michael Levine). Vor der Naturkulisse des Bregenzer Hausbergs, des Pfänders, evozieren blasse Tuschezeichnungen die Hügel um Nagasaki, auf denen Giacomo Puccinis Madame Butterfly nun zwei Sommer lang liebt und leidet.

Auf dem gletscherweißen Spielfeld ereignet sich ein Drama der Gegensätzlichkeiten. Impulsive, gedankenlose Eroberungslust trifft in Person des US-Marineoffiziers Pinkerton auf die andressierte Unterwerfungsroutine einer 15-jährigen Geisha. Ist der ausländische Kurzzeitehemann nur die Exit-Strategie einer verarmten japanischen Unterhaltungsdarstellerin? Oder liebt ihn Cio-Cio-San wirklich? Wie auch immer: Pinkerton lässt sich drei Jahre lang nicht blicken und holt dann mit seiner amerikanischen Frau seinen Sohn ab. Um Kind, Idée fixe und jede finanzielle Absicherung betrogen, begeht Cio-Cio-San, wie schon ihr Vater, Selbstmord.

Filigrane Bilder: Zwei Dutzend Geishas trippeln mit ihren aparten Kostümen und aufgespannten Schirmen im Papiergebirge.
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Seeproduktion als Melkkuh

Es sind wunderschöne filigrane Bilder, die Regisseur Andreas Homoki mit seinem Team für die zu erwartenden knapp 400.000 Besucher geschaffen hat. Zauberhaft, wenn zwei Dutzend Geishas mit ihren aparten Kostümen und aufgespannten Schirmen vom obersten Kamm des Papiergebirges heruntertrippeln und die Bühne in eine Symphonie aus Rottönen getaucht ist (Kostüme: Antony McDonald, Licht: Franck Evin). Die vielen Geishas sorgen im ersten Akt zusammen mit Butterflys Verwandtschaft und der milchweißen Gruppe der Ottokè, der Geister von Cio-Cio-Sans Ahnen, für Aktion auf der weiten Szene und umschwärmen die fernen, kieselsteinkleinen Hauptdarsteller wie kleine Fischschwärme.

Dennoch ist man am Premierenabend fast froh, dass im Verlauf des personenkargen zweiten Akts über Lindau heftige Gewitterdramen für externe dynamische Impulse sorgen. Es ist schon eine mutige Entscheidung von Sobotka, mit dieser Madame Butterfly auf eine filigrane Ästhetik zu setzten, wenn man weiß, dass die Seeproduktion die Melkkuh ist, an deren prallem Euter die Festspiele hängen: Mit ihr werden etwa 95 Prozent der Karteneinnahmen lukriert, im Schnitt allsommerlich rund 17 Millionen Euro.

Nach einer Stunde muss die Premiere am Mittwochabend aber unwetterbedingt abgebrochen werden. Etwa ein Viertel der Zuseher darf vom Freien ins Festspielhaus übersiedeln und kann so an einem Abend das Beste aus beiden Welten genießen: sowohl die atemberaubende Kulisse am See als auch die Nähe zu den Sängerinnen und Sängern. Die Anfahrt von Pinkerton in seinem Papierschiff bleibt einem so zwar vorenthalten wie auch die spektakulären Videoprojektionen beim erregten Auftritt des Bonzen, der Wasserfall an Blumen und das Flammenfinale. Aber all das kann man ja in der TV-Übertragung am Freitag begutachten.

Drama der Gegensätzlichkeiten: Geisha Cio-Cio-San (genannt Butterfly, gespielt von Celine Byrne) und US-Marineoffizier B. F. Pinkerton (Edgaras Montvidas).
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Leichtfüßige Komik ohne Süßlichkeit

In der halbszenischen Einrichtung im Haus erlebt man den strammen, geradlinigen Sopran von Barno Ismatullaeva in der Titelpartie und den raumgreifenden Tenor von Edgaras Montvidas als herzlosem Pinkerton (der zu Beginn der Premiere in der Höhe noch etwas eng war) unverstärkt. Ganz Kummer und Harm: Annalisa Stroppa als Suzuki; emotional intensiv: Brian Mulligan als Konsul Sharpless (es gibt wechselnde Besetzungen).

Man rätselt indes, warum die Regie die Handlung der 1904 uraufgeführten Oper unbedingt in die 1950er-Jahre verlegen musste: Nur wenige Jahre nach dem Abwurf der Atombombe Fat Man, in dessen Folge ein Viertel der Bevölkerung Nagasakis ums Leben kam, dürfte dort ein amerikanischer Soldat wohl seltener denn je als Anbetungsobjekt infrage gekommen sein. Eine falsche, unnötige, unsensible Entscheidung.

Trotz des famosen Bregenzer Richtungshörens am See (in das Bühnenbild sind dutzende Lautsprecher eingebaut) ist es schön, die Wiener Symphoniker im Haus unverstärkt zu erleben, zumal sie Dirigent Enrique Mazzola zu einem wundervollen Puccini animiert: mit leichtfüßiger Komik, Elan und Pathos, frei von jeder Süßlichkeit.

2024, im Abschiedsjahr von Elisabeth Sobotka, wird Philipp Stölzl Webers Freischütz am See inszenieren: Da wird man es wahrscheinlich wieder krachen lassen. Bis dahin darf man sich vom zarten Schmetterling rühren lassen, der sich an der Liebe die Flügel verbrennt. (Stefan Ender, 21.7.2022)