Markus Ragger: "Ich bin überrascht."

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Will nicht mehr: Magnus Carlsen.

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Bekommt seine zweite Chance: Jan Nepomnjaschtschi.

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Spielt zum ersten Mal um den Titel: Ding Liren.

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Schachweltmeister Magnus Carlsen wird auf eine weitere Verteidigung seines Titels verzichten. Das hatte der Norweger am Mittwoch in einem Podcast angekündigt. Der 31-Jährige, der seit 2013 den Titel hält, sprach von fehlender Motivation. Carlsen betonte jedoch, er werde weiterhin Schach spielen.

Jan Nepomnjaschtschi wäre nach seinem Sieg beim Kandidatenturnier Anfang Juli in Madrid zum zweiten Mal der Herausforderer gewesen. Nun wird der Russe 2023 wohl in einem WM-Duell gegen den Chinesen Ding Liren antreten.

Der österreichische Großmeister Markus Ragger hat die neuesten Entwicklungen verfolgt und sich Gedanken gemacht.

STANDARD: Es hatte sich angekündigt, dass Carlsen nicht mehr um die WM spielen wird. Sind Sie von der definitiven Entscheidung dennoch überrascht?

Ragger: Es stand seit seiner letzten Titelverteidigung im Raum, ich bin trotzdem überrascht. Es hängt viel Prestige an der Weltmeisterschaft. Und vermutlich viel Geld.

STANDARD: Carlsen sagt, er kann sich für ein Match gegen Nepomnjaschtschi nicht mehr motivieren. Ist das nachvollziehbar?

Ragger: Ich denke ja. Von seinen fünf WM-Matches hat ihm das erste gegen Viswanathan Anand am meisten bedeutet. Bei den anderen hat er die Aufgabe wie zu erwarten erfüllt. Das waren anstrengende Pflichtübungen.

STANDARD: Die letzte Titelverteidigung gegen Nepomnjaschtschi war ein Spaziergang. Kann auch das ein Impuls für den Rückzug gewesen sein?

Ragger: Auf jeden Fall macht es das Aufhören einfacher. Carlsen hat sein Können oft genug gezeigt, er muss nichts mehr beweisen. Bei einem engen Match hätte er sich in der Argumentation vielleicht schwerer getan.

STANDARD: Wird der Verzicht auf die WM sein Niveau beeinträchtigen?

Ragger: Eine Weltmeisterschaft ist ein Extraschub. Nach dem Match gegen Caruana 2018 war Carlsen in bestechender Form, da hat er sein Level noch einmal angehoben. Vielleicht wird der Vorsprung auf die anderen Spieler ohne WM-Teilnahme kleiner.

STANDARD: Wie intensiv läuft die Vorbereitung auf eine WM ab?

Ragger: Carlsen hat ein funktionierendes Team, das er nicht speziell für die WM zusammenstellen muss. Sein Chefsekundant Peter Heine Nielsen ist bei allen Turnieren dabei. Der Franzose Laurent Fressinet ist seit dem ersten WM-Titel dabei. Auf die kommt im Vorfeld viel Arbeit zu.

STANDARD: Und Carlsen geht derweil Basketball spielen?

Ragger: Der sieht sich die Ergebnisse hin und wieder an, schaut im Trainingslager vorbei. In die erste Vorbereitungsphase ist er gar nicht so intensiv involviert wie Nielsen. Carlsen gibt Feedback und lädt sich Top-Spieler ein, um die Vorbereitung und die Eröffnungen zu testen.

STANDARD: Die Sekundanten kommen also härter dran als der Weltmeister?

Ragger: Rein vom Schach her schon. Bei Carlsen muss allerdings das Gesamtpaket stimmen. Er muss körperlich topfit sein, sollte nicht den kleinsten Schnupfen ins Turnier mitnehmen. Auf ihm lastet der höchste Druck.

STANDARD: Was bedeutet der Rückzug von Carlsen für die WM?

Ragger: Das ist natürlich eine Entwertung. Es ist aber nicht das erste Mal, dass der beste Spieler nicht zur WM antritt. Im 19. Jahrhundert hat der US-Amerikaner Paul Morphy alles gewonnen und sich dann zurückgezogen. Bobby Fischer ist 1975 gegen Anatoli Karpow nicht angetreten. Garri Kasparow hat als Nummer eins auch nicht um die WM gespielt.

STANDARD: Nun sollen Jan Nepomnjaschtschi und Ding Liren um die WM spielen, ein Russe gegen einen Chinesen. Wer wird sich um die Austragung bemühen?

Ragger: Theoretisch kann dieses Match in Moskau stattfinden. Das wäre mit Carlsen nicht möglich gewesen. Die Frage ist aber, ob es überhaupt dazu kommt. Von vielen Seiten wird gefordert, russische Spieler zu sperren. Nepo spielt derzeit unter der Flagge des Weltschachverbands.

STANDARD: Wer wäre bei diesem Duell zu favorisieren?

Ragger: Ich schätze Ding Liren als Spieler höher ein. Nepomnjaschtschi ist aber professioneller aufgestellt. Ding Liren ist beim Kandidatenturnier in Madrid ohne Sekundanten angereist. Das ist schon unglaublich. Er spielt fast keine Turniere außerhalb von China.

STANDARD: Gibt es bei Carlsen die Chance auf eine Kehrtwende? Vielleicht bei der übernächsten WM?

Ragger: Nach derzeitigem Stand der Dinge müsste er den Weg durch die Qualifikation für das Kandidatenturnier gehen. Das halte ich für recht unwahrscheinlich. Wenn man die WM nicht spielen will, geht man nicht den langen Weg zur WM. Da ist eher vorstellbar, dass er seine eigene Tour zu einer Art Weltmeisterschaft aufwertet. Unter seinen Konditionen.

STANDARD: WM hin oder her – bleibt Carlsen das Maß der Dinge?

Ragger: Ja, ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm jemand als Nummer eins der Welt gefährlich wird. Es steht außer Frage, dass Carlsen der beste Spieler der Welt ist. Niemand in der Schachwelt würde etwas anderes behaupten. (Philip Bauer, 21.7.2022)