Weizenernte in Tschuhujiw, Oblast Charkiw.

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Ein Wohnhaus in der Ostukraine, das durch russische Angriffe zerstört wurde.

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Kiew/Ankara – Die Ukraine und Russland wollen am Freitag in Istanbul ein Abkommen zur Ausfuhr von Getreide und anderer Agrargüter aus der Ukraine und Russland unterzeichnen. Das gab das türkische Präsidialamt am Donnerstag bekannt. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan und UN-Generalsekretär António Guterres sollen bei der Unterzeichnung anwesend sein. Die Ausfuhr von in der Ukraine blockierten Gütern über gesicherte Korridore im Schwarzen Meer soll durch örtliche Waffenruhen ermöglicht werden. Wegen der Blockade der Getreideexporte droht eine weltweite Hungerkrise.

Die Ausfuhr von in der Ukraine blockierten Gütern über gesicherte Korridore im Schwarzen Meer soll nach Angaben von Diplomaten durch örtliche Waffenruhen ermöglicht werden. Die Türkei soll demnach die Schiffe inspizieren, um den Transport von Waffen zu verhindern. In Istanbul könne eine Koordinierungsstelle mit UN-Spezialisten eingerichtet werden, hieß es.

Die Ausfuhr russischen Getreides und Düngers soll durch das Abkommen ebenfalls erleichtert werden. Getreide-Exporte aus Russland sind nicht direkt mit Sanktionen belegt, werden aber durch Strafmaßnahmen gegen Transportbetriebe, Versicherungen und Banken erschwert.

Fünf Monate Krieg

Russlands Militär hat eigenen Angaben zufolge mehrere Ziele im Süden und im Osten der Ukraine beschossen. In den Gebieten Mykolajiw und Donezk seien innerhalb der vergangenen 24 Stunden insgesamt neun Kommandoposten getroffen worden, so das Verteidigungsministerium am Donnerstag – fast fünf Monate nach dem russischen Einmarsch am 22. Februar.

Zudem seien sechs Waffenlager zerstört und ein Kampfflugzeug sowie ein Kampfhubschrauber abgeschossen worden. Mehr als 600 Kämpfer seien außerdem am vergangenen Samstag bei einem Luftangriff im südukrainischen Gebiet Odessa getötet worden. Darunter seien auch bis zu 120 ausländische Söldner gewesen. Unabhängig überprüfen lässt sich all das freilich nicht. Eine Bestätigung dieser Angaben von ukrainischer Seite gibt es nicht.

Ukraine sieht keine russischen Fortschritte im Donbass

Von ukrainischer Seite hieß es ebenfalls, die schweren Kämpfe im Donbass seien am Donnerstag weitergegangen. "In der Region Luhansk gibt es wahrscheinlich keinen einzigen Quadratmeter Land, der von russischer Artillerie noch verschont geblieben ist", sagte Gouverneur Serhij Hajdaj. Die russischen Streitkräfte hörten erst dann mit den Angriffen auf, wenn ihr Material ermüde. Nach Angaben des ukrainischen Militärs kommen die russischen Truppen bei ihren Versuchen, im Donbass weiter vorzudringen, kaum voran.

Britischen Geheimdienstberichten zufolge näherten sich die russischen Streitkräfte offenbar dem zweitgrößten Kraftwerk der Ukraine in Wuhlehirsk, rund 50 Kilometer von Donezk entfernt. "Russland räumt der Eroberung von kritischer Infrastruktur wie Kraftwerken Priorität ein", teilte das britische Verteidigungsministerium mit. Die russischen Truppen versuchten zudem, ihrem Vorstoß auf die Städte Kramatorsk und Slowjansk einen neuen Schub zu verleihen.

Beim russischen Beschuss der Stadt Charkiw sind nach Angaben des dortigen Gouverneurs Oleh Synehubow zwei Personen getötet worden. 19 Menschen seien verletzt worden, davon vier schwer. Russland weist Vorwürfe zurück, bei seinem als militärische Spezialoperation bezeichneten Vorgehen in der Ukraine Zivilisten ins Visier zu nehmen.

Russland nennt maximalistische Ziele

Moskau hatte am Mittwoch damit gedroht, in der Ukraine noch mehr Gebiete einnehmen zu wollen als ursprünglich zu Kriegsbeginn vor fünf Monaten angekündigt. Außenminister Sergej Lawrow begründete das mit der zunehmenden Reichweite der vom Westen gelieferten Waffen für die Ukraine, die eine Gefahr für die vom Kreml unterstützten ostukrainischen Separatistengebiete Donezk und Luhansk sowie für Russland selbst seien. Laut dem Chef des russischen Parlaments, Wjatscheslaw Wolodin, verhindern US-Interessen und die militärische Unterstützung der Ukraine eine friedliche Regelung im Donbass.

Zur Unterstützung im bereits seit 148 Tagen andauernden Krieg haben die USA am Mittwoch der Ukraine unter anderem vier weitere Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars zugesichert. Die Führung in Kiew zeigte sich dankbar, fordert aber dringend auch die Lieferung von Luftabwehrsystemen. Großbritannien sendet weitere Artilleriegeschütze und 1.600 Waffen zur Panzerabwehr in die Ukraine, hieß es am Donnerstag.

Unklare Opferzahlen

Nach Berechnungen der Vereinigten Staaten sind bisher rund 15.000 russische Soldaten im Krieg mit der Ukraine ums Leben gekommen und vielleicht dreimal so viele verwundet worden. CIA-Direktor William Burns bezeichnete dies auf dem Aspen Security Forum in Colorado als "erhebliche Verluste". "Und auch die Ukrainer haben gelitten – wahrscheinlich etwas weniger", so Burns am Mittwoch.

Russland stuft Todesfälle von Soldaten auch in Friedenszeiten als Staatsgeheimnis ein und hat seine offiziellen Zahlen während des Krieges nicht durchweg aktualisiert. Am 25. März hieß es, es seien 1.351 russische Soldaten gefallen. Die Regierung in Kiew erklärte im Juni, dass täglich 100 bis 200 ukrainische Soldaten bei den Kämpfen ums Leben kommen.

Keine Entwarnung

Nach der Wiederaufnahme der Gaslieferungen durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland hat der Kreml in Moskau betont, dass Russland ein Garant für die Energiesicherheit in Europa bleiben wolle. Präsident Wladimir Putin habe stets betont, dass der Staatskonzern Gazprom alle Verpflichtungen erfülle, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Er wies außerdem Gerüchte über den vermeintlich schlechten Gesundheitszustand von Putin als "nichts als Lügen" zurück. CIA-Direktor Burns hatte die Spekulationen am Vortag ebenfalls abgetan. Putin sei "viel zu gesund".

Die Energieversorger in Deutschland sehen trotz der Wiederaufnahme der Gaslieferungen durch Nord Stream 1 keinen Anlass zur Entwarnung. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat ein weiteres Paket zur Energiesicherung angekündigt. Dazu gehören schärfere Vorgaben zur Befüllung der Gasspeicher und eine Aktivierung der Braunkohlereserve. Auch für Österreichs Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) ist die Wiederaufnahme noch kein Grund zur Entwarnung.

Ungarn will indes 700 Millionen zusätzliche Kubikmeter Gas von Russland kaufen. Dies kündigte die Fidesz-Partei von Regierungschef Viktor Orbán an. Außenminister Péter Szijjártó wollte noch am Donnerstag nach Moskau reisen, um über neue Gaslieferungen zu sprechen. (APA, red, 21.7.2022)