Im Gastblog schreibt Sabine Pollak über das Konzept eines autofreien Skiortes in der Schweiz und welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen.

Vortragseinladungen zu Symposien sind interessant. Sie stellen die eigene Expertise in einen größeren Diskurs, erweitern den Horizont und bringen Vernetzung für kommende Projekte. Manche Einladungen sind aber noch besser als andere. So erhielt ich vor kurzem eine zu einem Vortrag auf einer Tagung im Schweizer Ort Saas Fee. Saas Fee? Dieses Saas Fee? In Wien war es gerade drückend heiß, also nichts wie hin zu den Gletschern!

Inmitten von Bergen setzt man auf Fortbewegung abseits des Autos.
Foto: Sabine Pollak

Saas Fee ist ein kleiner Ort mit 1550 Einwohnenden und liegt auf einem 1800 Meter hohen Hochplateau. Er ist umgeben von einer ganzen Reihe von Viertausendern, und die Gletscher reichen (noch) fast bis an die Häuser heran. Der Ort liegt im Kanton Wallis, in einer wilden Mischung aus hochalpiner Bergkulisse und mediterranen Hügeln, an denen Wein wächst. Saas Fee ist die kleine Schwester vom nahen Zermatt, das noch weitaus bekannter und auch mondäner ist. Die beiden Geschwisterorte verbindet jedoch neben der tollen Landschaft vor allem eines: Beide Orte sind autofrei. Saas Fee ist einer von acht autofreien Orten in der Schweiz. Ich war noch nie in Zermatt, Saas Fee jedoch kannte ich bereits von einem Skiurlaub mit meinen Eltern vor langer Zeit, auch das war ein Grund, warum ich noch einmal hinwollte. Ich wollte nachsehen, ob das immer noch gut geht ohne Autos.

Weniger Autos ist zu wenig

Wer wie ich drei Tage in Saas Fee verbringt, fragt sich wahrscheinlich auch, warum nicht längst alle mehr oder weniger alpin gelegenen Orte, deren Haupteinnahmequelle Tourismus ist, autofrei sind. Was hindert Kitzbühel daran, die Autos draußen zu lassen? Warum muss man mit dem PKW bis zum letzten St. Antoner Apartment fahren? Und wie schön wäre es, wenn Rust am Neusiedlersee nur zu Fuß zu erleben wäre? Wenn der See weiter so austrocknet, sind ohnehin alternative Konzepte gefragt. Verantwortliche argumentieren dann oft, dass große Teile der Orte ohnehin nur für Anrainerinnen und Anrainer befahrbar seien. Aber weniger Autos ist nicht dasselbe wie gar keine Autos. Gar keine Autos bedeutet, dass man umdenken muss. Und das ist sichtlich schwierig im Land der Gondeln, Schneekanonen und Seefestspiele.

Mit Föhnfrisur zur Weltberühmtheit

Auch Nichtskifahrende kennen Saas Fee. Der Ort wurde schlagartig berühmt, als die Popgruppe Wham! dort 1984 ihr unsagbar schlechtes und zugleich lustiges Video zum Song "Last Christmas" drehte. Eine Gruppe junger Menschen in bunten Kleidern, Moonboots und Föhnfrisuren wirft sich scheinbar grundlos in den Schnee, schmückt Weihnachtsbäume und hüpft rund um ein ortstypisches Chalet herum.

Aber Saas Fee ist mehr als nur Kulisse für Videos. In der Verkehrsordnung des Ortes gibt es unter anderem den simplen, aber überzeugenden Grundsatz: "Der Gebrauch der Strassen und Wege ist grundsätzlich dem Fussgänger vorbehalten." Klingt normal und logisch. Wenn man das Verkehrsaufkommen in österreichischen Tourismusorten sieht, weiß man jedoch, an diesem Grundsatz ist gar nichts einfach. Wer mit dem PKW oder dem Postbus die kurvige Straße nach Saas Fee fährt, kommt gerade einmal bis zur Hochgarage am Ortsrand, und dann ist es vorbei.

Für Gepäcks- und Zubringertransport zum Hotel sorgen kleine, schmale Elektroautos. Zudem experimentiert man gerade mit noch kleineren, schon von zuhause aus zu buchenden selbstfahrenden Gepäcksfahrzeugen. Sie sehen ein wenig aus wie Roboter-Bernhardinerhunde, die hinter Touristinnen und Touristen mit dem Gepäck hinterherzockeln und bis zum Hotel begleiten - ein Zustellservice, mit dem man sich auch ein wenig unterhalten kann ("Gruezi", Hoteladresse, "Adieu"). Die Höchstgeschwindigkeit für alle Fahrzeuge beträgt, auch das ist ein Grundsatz, 15 km/h. Ausgenommen sind Rettungs- und Baufahrzeuge. Alles andere wird zu Fuß oder mit dem Rad erledigt.

Dem Fahrrad kommt in Saas Fee eine zentrale Bedeutung zu.
Foto: Sabine Pollak

Für Gepäcks- und Zubringertransport zum Hotel sorgen kleine, schmale Elektroautos. Zudem experimentiert man gerade mit noch kleineren, schon von zuhause aus zu buchenden selbstfahrenden Gepäcksfahrzeugen. Sie sehen ein wenig aus wie Roboter-Bernhardinerhunde, die hinter Touristinnen und Touristen mit dem Gepäck hinterherzockeln und bis zum Hotel begleiten - ein Zustellservice, mit dem man sich auch ein wenig unterhalten kann ("Gruezi", Hoteladresse, "Adieu"). Die Höchstgeschwindigkeit für alle Fahrzeuge beträgt, auch das ist ein Grundsatz, 15 kmh. Ausgenommen sind Rettungs- und Baufahrzeuge. Alles andere wird zu Fuß oder mit dem Rad erledigt.

Alltag ohne Autos

Wie sieht nun der Alltag in Saas Fee aus? Die schmalen Gassen und Wege werden, wie sollte es anders sein, zur Gänze von zu Fuß gehenden Personen benutzt. Und dies sind nicht nur Touristinnen und Touristen. Einkäufe werden mit dem Fahrrad erledigt oder zu Fuß, oft mit einem Elektro- oder Lastenfahrrad. Dass mehr Leute im zentralen Supermarkt einkaufen als in den wenigen verbliebenen Läden, ist ähnlich problematisch wie anderswo auch. Aber auch daran wird gearbeitet.

Garagen werden nicht benötigt, wird das Auto doch vor Ortsbeginn abgestellt.
Foto: Sabine Pollak

Ansonsten werden Steigungen und Rampen in Kauf genommen. Der Ort wirkt wie ein gebauter Fitnessparcours, und niemanden scheint es zu stören. Kinder laufen gefahrlos herum, und sollte einmal ein Elektrofahrzeug kommen, kündigt es sich durch sanftes Piepsen früh genug an. Garagen und Parkplätze braucht es keine, ein paar kleine Unterstände für die E- Fahrzeuge reichen.

Ohne öffentliche Anbindung geht nichts

Das Ergebnis ist erstaunlich. Keine Autos verstellen die Straßen, die Erdgeschosse werden gut genutzt, und anstelle von Autolärm hört man den vom Gletscher herunterdonnernden Fluss. Saas Fee ist etwa gleich groß wie Ischgl, die Konzepte der beiden Orte könnten jedoch unterschiedlicher nicht sein. Während Ischgl seit jeher auf große Partys und Events setzt, wird in Saas Fee sogar die Lautstärke der Fernseher im Ort vorgegeben (Zimmerlautstärke).

Das mag alles überreguliert klingen, ist aber eine gute Alternative zum Overtourismus mancher Orte in Österreich. Saas Fee ist ein gutes Beispiel für einen Lehrort, in dem man ausprobieren kann, wie das so wäre ganz ohne Auto. Das autofreie Konzept wird aber auch durch ein exzellentes öffentliches Verkehrssystem unterstützt. Alle zwanzig Minuten fährt ein Bus ins Tal zum nächst größeren Ort Visp, von dort gibt es ein dichtes Netz an Zugverbindungen nach Bern und Zürich, für die der Begriff Verspätung nicht zu existieren scheint. In Ischgl werben Luxushotels mit einer Tiefgarage unter dem Haus. In Saas Fee wird akzeptiert, dass man Wanderrucksack und Ski ein wenig tragen muss, bis man zum Hotel oder zur Bergbahn kommt.

Allianz der Alpen und Cholera

Saas Fee ist Teil der so genannten „Allianz in den Alpen“, die auch oben genannte Tagung organisierte, eine kluge Vereinigung von Gemeinden aus sieben Staaten in den Alpen, die oft ähnliche Probleme haben: Ein schwindender oder überbordender Tourismus, kaum Wohnmöglichkeiten für Saisonarbeitskräfte (sofern man sie noch findet), der Abzug junger Personen, ein sich veränderndes Klima, das Problem der Zweitwohnsitze und vieles mehr. Man tauscht sich auf jährlichen Veranstaltungen aus und entwickelt umsetzbare Ideen, die das Leben in kleinen Gemeinden an heutige Verhältnisse anpassen und lebenswert machen oder erhalten.

Auch Saas Fee hat Probleme, und nicht alles ist gut dort. Das Dorf wächst zu Weihnachten und Ostern zu einer Stadt mit 12.000 Personen heran. Dafür braucht es Hotels, Restaurants und Apartmenthäuser, deren Architektur manchmal mehr und manchmal weniger gelungen ist. Aber der Ort arbeitet ständig an sich. Immerhin wurde Saas Fee die Auszeichnung "Energiestadt Gold" verliehen. Und neu gebaut werden darf momentan gar nichts. Die Kräne, die gerade herumstehen, sind für die Sanierung des Bestands. Der Bürgermeister und sein Team sind eigenwillig, lustig, stolz und wohl auch ein wenig stur, aber das braucht es auch, um solche Konzepte durchzusetzen. Meine Empfehlung: Hinfahren, anschauen, ein, zwei Tage ohne Auto dort verbringen und die Ideen in die eigenen Orte tragen. Und wenn man dort ist, darf man auf keinen Fall die Cholera verpassen. Keine Angst, das ist keine neue Pandemie, sondern ein exzellenter Lauch-Kartoffelkuchen. En Guete! (Sabine Pollak, 27.7.2022)

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