Immer mit dem Blick auf das Wohl des Kindes müssen Sozialarbeiterinnen Hilfe organisieren.

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Eigentlich darf ich über meine Arbeit nichts erzählen, ich habe einen Diensteid geschworen. Aber ich muss es tun. Es geht mir um das Wohl von Kindern. Ich bin seit mehreren Jahren Sozialarbeiterin in der Kinder- und Jugendhilfe in einem Bezirk in der Steiermark. Die Arbeitsverhältnisse machen es meines Erachtens unmöglich, qualitätsvolle Arbeit zu leisten. Die Situation hat sich über die Jahre verschlechtert. Es ist keine Momentaufnahme. Es hat sich schon vor Corona abgezeichnet, die Pandemie hat es verschlimmert.

Meine Arbeit besteht darin, dafür zu sorgen, dass Familien und Kinder die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Das kann sein, Haushalt und Alltag zu strukturieren, Unterstützung zur innerfamiliären Konfliktlösung oder bei Erziehungsfragen zu geben. Bis hin zur Abklärung, ob sich ein Kind in seinem Zuhause in Gefahr befindet. Manche Familien brauchen nur kurz und punktuell Hilfe, zum Beispiel bei Amtswegen, andere benötigen eine Zeitlang engmaschig Kontakte.

Wir müssen massiv hohe Fallzahlen bewältigen. 2014 circa wurde das Vier-Augen-Prinzip eingeführt, das vorsieht, dass zwei Sozialarbeiterinnen über eine Gefährdungsabklärung entscheiden. Das ist prinzipiell gut. Für uns bedeutet es viel mehr Aufwand. Wir bekamen aber nicht entsprechend mehr Ressourcen.

Nokia 3310 als Diensthandy

Unsere Ausstattung stammt aus dem vorigen Jahrhundert. Wir haben das Nokia 3310 als Diensthandy, dokumentieren mit Word, füllen händisch Zettel aus. Wenn in der Kinder- und Jugendarbeit ein Projekt an einen freien Träger vergeben wird, muss dieser immer ein Dokumentationssystem vorweisen. Wir vom Bezirk haben das alles nicht.

Freie Stellen werden lange nicht nachbesetzt. Dadurch entstehen Lücken, die Kolleginnen übernehmen müssen. Ich habe nie nur meinen eigenen Sprengel betreut, sondern immer auch andere Regionen dazu übernehmen müssen.

Vor einigen Jahren gab es eine Systemumstellung. Das sozialarbeiterische Konzept Case Management wurde eingeführt. Dabei geht es um eine steiermarkweit fachlich einheitliche Vorgehensweise, was Sinn macht. Jede Sozialarbeiterin sollte maximal 15 bis 20 Fälle betreuen. Aber bei uns sind 50 Fälle nicht außergewöhnlich. Das entspräche circa 100 Prozent meines Sprengels. Wie gesagt hatte ich meist mehr.

Wen bringt man nur durch?

Man muss entscheiden, welche Fälle bearbeitet man intensiver, welche bringt man nur irgendwie durch. Das ist irrsinnig schwierig. Besonders für neue Kolleginnen.

Wenn eine Sozialarbeiterin zu einem Kind kommt, das akut aus einer Familie genommen werden muss und einen Platz in einer Einrichtung braucht, gibt es keine Datenbank, in der sie nachschauen könnte, wo Plätze frei sind. Sie schnappt sich dann ihr Nokia und beginnt zu telefonieren. Neuen Kolleginnen fehlen oft die Kontakte, um eine Lösung zu finden.

Zum Beispiel ruft man dann in Kriseneinrichtungen an – von denen es in der Steiermark drei gab und jetzt de facto nur eine. Eine zweite läuft noch auf Schmalspurkurs. Da ist also selten Platz. Krisenpflegeeltern zu finden ist auch sehr schwierig. Es scheitert auch schon die Suche nach Plätzen für Babys. Daher müssen oft sehr kleine Kinder in WGs. Das sind bestehende Wohngruppen, die nicht auf Krisenmanagement ausgelegt sind. Für alle Beteiligten eine große Aufregung. Mitunter kommt ein kleines Kind dort unter lauter Schulkinder – die auch ihre schwierigen Geschichten haben.

Geschichte vorprogrammiert

Ein Beispiel: Ein Vierjähriger kommt wegen einer Krisensituation – zum Beispiel von drogensüchtigen Eltern misshandelt – in eine WG, wo nur Kinder im Schulalter leben. Bis zu zwölf sind in der Gruppe. Er schläft allein in einem Zimmer, hat eine Wechselbetreuung, wenn es gut geht, eine Bezugsbetreuerin. Wenn seine Sozialarbeiterin nicht bemerkt, dass das Kind eine andere Umgebung braucht oder kein anderer Platz zur Verfügung steht, ist seine Geschichte vorprogrammiert. Dann geht es mit zwölf nicht mehr zur Schule, hat eine übersexualisierte Sprache, kommt auch mal in die Psychiatrie, wird dort nach einer Nacht wieder entlassen … Das sind Schicksale, die ich laufend erlebe.

Ich will niemandem böse Absicht unterstellen. Ich glaube, die Politik weiß nicht und interessiert sich nicht dafür, was los ist. Hier werden Sozialfälle am laufenden Band produziert. Niemand ist verantwortlich, aber irgendetwas läuft falsch. Es vergeht Zeit, viele Kinder sind schwer traumatisiert, haben massive Probleme. Es ist gemein, wie kaputt das System ist. Es wird irgendwann wieder einen Skandalfall geben. Wir bewegen uns an der Grenze zum Strafrecht.

Es ist nicht fair, all das Einzelpersonen aufzubürden. Ich schaffe es nicht mehr. (Aufgezeichnet von Gudrun Springer, 22.7.2022)