Tausende Mininadeln befördern den Impfstoff von den Nanopatches direkt unter die Haut. Das ist effizienter – und senkt die Kosten pro Impfdosis, sagt deren Erfinder Mark Kendall.

Foto: Rolex/Franck Gazzola

Zwei Minuten können ein ganzes Leben verändern. Bei Mark Kendall war das zumindest der Fall. Ein kurzes Gespräch auf einer Wissenschaftskonferenz lenkte seine Karriere in völlig neue Bahnen. Kendall hatte gerade seinen PhD an der University of Queensland abgeschlossen. Der Australier beschäftigte sich mit der Aerodynamik bei hohen Geschwindigkeiten – ein Bereich, der für Raketentechnologien und damit für die militärische Forschung interessant ist. "Auf der Konferenz kam ein Mann auf mich zu. Er hatte die Idee, Raketen zu nutzen, um Impfstoffe unter die Haut zu schießen. Und er fragte, ob ich mit ihm arbeiten möchte", erinnert sich Kendall. "Diese Technologie zu verwenden, um Menschen zu retten, anstatt sie zu töten, klang für mich sehr interessant."

Heute, knapp 25 Jahre später, ist die Zulassung einer völlig neuen Impftechnik zum Greifen nahe. Kendalls Weg führte über die "Raketenmethode" zu einem Ansatz, der noch höheres Potenzial hat, viele Menschen weltweit zu erreichen – vor allem in den Ländern des Globalen Südens, wo ein günstiger Preis je Impfdosis besonders relevant ist.

Er wurde zum Erfinder der Nanopatches, kleiner Pflaster, die auf die Haut geklebt werden und dort innerhalb weniger Sekunden den Impfstoff an den Körper abgeben. Ohne schmerzhaften Nadelstich, der den Wirkstoff ins Gewebe spritzt. Ohne den Bedarf einer Kühlkette für den Impfstoff – ein Problem, das seit der Covid-Pandemie auch breit bekannt ist. Und mit weit geringeren Wirkstoffmengen als bei bestehenden Methoden.

Idee aus Langeweile entstanden

1998, als Kendall vom damaligen Oxford-Wissenschafter Brian Bellhouse angesprochen wurde, war diese Idee noch weit entfernt. Die Zusammenarbeit führte zu einer Erfindung, die Powderject oder Gene Gun genannt wurde. Es ist eine Art "Pistole", die, angetrieben von Helium, Mikropartikel mit hoher Geschwindigkeit in Zellen oder unter die Haut schießt. Der 1972 geborene Kendall sagt heute, dass er während seiner Zeit an der Oxford University das "Handwerk des Erfindens" gelernt hat. Doch für ihn endete sie auch in einer Frustration.

Microsoft-Gründer und Philanthrop Bill Gates startete damals einen Aufruf, Impfungen für den Globalen Süden verfügbar zu machen. Wissenschafter auch aus nichtmedizinischen Bereichen sollten sich dazu Gedanken machen. Bei Kendall stieß dieser Aufruf auf offene Ohren. "Als Erstes versuchte ich, die Gene Gun als Anwendung für Impfungen in Entwicklungsländern nutzbar zu machen", blickt Kendall zurück. "Als mir klar wurde, dass es nicht funktionieren würde, war das eine schmerzhafte Erkenntnis."

Was wenn militärische Raketentechnologie auch zur Rettung von Leben eingesetzt werden könnte? Die Frage veränderte Mark Kendalls Leben.
Foto: Rolex/Franck Gazzola

Die Frustration führte zu einem Neustart. Er suchte nach einem anderen Weg, das Ziel zu erreichen. Der Durchbruch kam erneut bei einer Konferenz, diesmal in einem Moment der Langeweile bei einem Vortrag. "Ich hatte einen Moment der Klarheit, als ich mich hinten im Konferenzsaal auf einem Notizblock mit dem Problem beschäftigte. Innerhalb von 20 oder 30 Minuten hatte ich die Grundlagen der Nanopatches skizziert", sagt Kendall. "Mein Instinkt sagte mir, dass das eine signifikante Entwicklung sein könnte."

Erstes Patent

2006 wechselte er mit diesem Konzept im Kopf und dem ersten Patent dazu in der Tasche zurück an die australische University of Queensland. Nicht zufällig holte ihn Ian Frazer, einer der Erfinder des Impfstoffs gegen Humane Papillomaviren, in seine alte Heimat zurück. Es gelang, eine Finanzierung der Gates Foundation für die Nanopatches zu erlangen, spätestens 2011 war wissenschaftlich belegt, dass die Methode funktionieren würde. Das Uni-Spin-off Vaxxas sollte die Erfindung kommerzialisieren.

Die Nanopatches verfügen über eine Anordnung von tausenden winzig-kleinen Spitzen, die den Impfstoff unter der Hautoberfläche platzieren – für Kendall ist das der "Sweet Spot" für die beste Immunantwort. Der Wirkstoff liegt in den Nanopatches in trockener Form vor. Erst wenn das Pflaster Kontakt mit der Haut hat, wird er durch die Feuchte des Körpers gelöst und wandert an den Bestimmungsort. Diese Lieferform ist laut dem Forscher sicherer und effizienter als bisherige Schluck- oder Nadelimpfungen. Es ist zudem nur ein Bruchteil der Wirkstoffmenge nötig.

Damit fällt auch der Preis pro Dosis rapide – ein wichtiges Argument für die Anwendung im Globalen Süden. Ein Preis für Unternehmergeist, den die Uhrenmarke Rolex Kendall 2012 verlieh, ermöglichte, dass bereits nach kurzer Zeit eine erste Studie zur Impfung gegen Humane Papillomaviren in Papua-Neuguinea stattfinden konnte. Für Kendall war das der Start einer neuen Entwicklung, die auch zu engeren Kooperationen mit der Gates Foundation und der Weltgesundheitsorganisation WHO führte.

Tragbare Diagnostik

Heute sind die Forschungen zu mehreren Impfstoffen weit fortgeschritten. Neben klinischen Studien zu Humanen Papillomaviren gibt es ebensolche für Influenza und Masern. Die Produktentwicklung läuft, Herstellungskapazitäten werden geschaffen, Zulassungen könnte es in wenigen Jahren geben. Natürlich denkt man auch an jenes Virus, das die Welt in den vergangenen Jahren in Atem hielt: "Es gibt eine Partnerschaft für Covid-Impfungen und einen Arbeitsplan für klinische Tests", erklärt Kendall.

Der australische Erfinder, der heute über 150 Patente hält, ist mittlerweile aber einer neuen großen Sache auf der Spur. 2018 gründete er das Unternehmen Wear Optimo, das tragbare Sensoren entwickelt, um menschliche Vitalfunktionen zu messen. "Präzisionsmedizinische Anwendungen aus dem Spitalsetting herausholen", das birgt für Kendall enormes Potenzial. Seine Wear ables, die wieder kleinen Pflastern gleichen, verfügen über Mikroelektroden. Auch sie dringen oberflächlich in die Haut ein – nicht um Wirkstoffe abzugeben, sondern um Daten aufzunehmen. Eine erste Anwendung misst den Wasserhaushalt des Körpers – relevant etwa in der Altenpflege. Auch am Horizont: ein Sensor, der einen Biomarker erkennt, der den Symptomen eines Herzinfarkts vorausgeht. Kendall: "Im Ernstfall kann das Patienten die nötige Zeit verschaffen, um schnell Gegenmaßnahmen zu ergreifen." (Alois Pumhösel, 29.7.2022)