Die Erzählwelt, die Ali Smith geschaffen hat, ist über viele Schwellen zu betreten.

Foto: Imago / Matteo Nardone

Die 1962 im schottischen Inverness geborene und mittlerweile in Cambridge lebende Ali Smith zählt zu den prägenden Autorinnen der zeitgenössischen englischsprachigen Literatur. Seit Mitte der Achtziger veröffentlicht sie Theaterstücke, Kurzgeschichten, Essays und vor allem Romane, die sich durch ein eigenwilliges Spiel mit Form, Zeit und (Geschlechter-)Identität auszeichnen.

Dass sie nun auch im deutschsprachigen Raum Bekanntheit erlangt, ist den Jahreszeiten zuzuschreiben: 2016 wurde Autumn veröffentlicht, dem folgten Winter, Spring und schließlich 2020 Summer; in Übersetzung von Silvia Morawetz ist das Quartett bei Luchterhand erschienen.

Es kann in jeglicher Reihenfolge gelesen werden, die Erzählwelt, die Ali Smith geschaffen hat, ist über viele Schwellen zu betreten, setzt bei vielen Brüchen an. Beispielsweise den gesellschaftspolitischen Verwerfungen, die die europäische Gegenwart zuletzt geprägt haben und in den Romanen als hintergründige Störquellen fungieren.

Brexit, die populistischen Widerwärtigkeiten eines Donald Trumps oder die Auswirkungen des Klimawandels: Wie unscheinbar, dennoch nachhallend derartiges auf das individuelle Denken einwirkt, das arbeiten die Romane gekonnt heraus. Ihnen liegt das Vorhaben zugrunde, möglichst schnell auf aktuelle Geschehnisse zu reagieren.

Am Puls der Gegenwart

Innerhalb weniger Monate wurde geschrieben und publiziert, was die textliche Qualität umso erstaunlicher macht. Meist altern am Puls der (scheinbaren) Gegenwart geschriebene Texte schlecht. Nicht so bei Ali Smith. Der Diskurs eines Boris Johnson, den sie sich beispielsweise einverleibt, dient nicht als Momentaufnahme oder Dokumentation, sondern wird in das bedrohliche Gefühl transformiert, dass es ein Symptom einer Welt ist, die unter unser aller Augen gewachsen ist und nach wie vor Bestand hat.

Die vier Jahreszeiten von
Ali Smith: viel Licht und Orientierungshilfe in dunklen Zeiten.
Cover: Luchterhand

Zu Beginn des Jahres 2020 greift weltweit ein Virus um sich. In Australien wüten massive Buschfeuer. Zwischen diesen beiden Polen – der Zerstörung der Natur und ihrer gleichzeitigen Unkontrollierbarkeit – setzt Sommer ein. Es sind Zumutungen, zu denen sich die Charaktere (und mit ihnen auch wir, der wir ihre Zeitgenossen sind) verhalten müssen.

Die 16-jährige Sacha etwa, die in den Katastrophen vor allem ein Versagen der Elterngeneration sieht. Ihr drei Jahre jüngerer Bruder Robert mag zwar hochintelligent sein, aus Unsicherheit oder Lust an Provokation gibt er aber die pubertäre Version eines Nigel Farage ab. Ihre Eltern haben sich getrennt, der Vater lebt nur eine Tür weiter in einer neuen Beziehung. Seine Freundin Ashley schreibt eine Art Lexikon: ein Buch über die zweischneidige Kraft von Wörtern und welche Wandlungen und Bedeutungswechsel diese durchmachen können.

Sinn finden

Alle versuchen sie, in einer bedrohlichen, gespaltenen Welt Sinn zu finden. Oder etwas, das weitermachen, weiterleben lässt. Sommer wie auch die übrigen drei Jahreszeitenbände schildert das Bemühen, nicht den Glauben an sich selbst zu verlieren.

Diese Herausforderung nimmt auch Daniel Gluck an, ein gealterter Songwriter. Seine Geschichte führt in Rückblenden in den Zweiten Weltkrieg. Als Engländer mit deutschen Wurzeln wird er zu einem "enemy alien" ernannt – der Kollaboration mit den Nazis verdächtigte, absurderweise oftmals jüdische Einwanderer – und mit seinem Vater im Hutchinson Camp auf der Isle of Man interniert.

Cover: Luchterhand

Es zeigt, wie fein das Netz gewoben ist, das Zusammenspiel innerhalb des Quartetts: Hutchinson Camp ist ein historisches Echo der Immigration Removal Centres, britische Auffanglager für Migrantinnen und Migranten, eine gegenwärtige, menschenverachtende Maschinerie, die das Zentrum in Frühling darstellt. Daniel Gluck wiederum ist bereits in Herbst zu vernehmen, als eine der maßgeblichen Stimmen dieses literarischen Kosmos, 104-jährig, in Träumen den eigenen baldigen Tod erahnend.

Ein jeder der vier Bände setzt mit einem Prosagedicht ein. Summer beginnt im Original wie folgt: Everybody said: so? As in so what? As in shoulder shrug, or what do you expect me to do about it?

Engagement beginnt mit Nachdenken

Das Jahreszeiten-Quartett stellt sich gegen die Teilnahmslosigkeit der schweigenden Mehrheit, die durch ihr Desinteresse kapituliert. Es stellt die Frage nach Art und Ausmaß des persönlichen Engagements. Engagement wiederum beginnt bei Ali Smith zuallererst beim Nachdenken, bei der Genauigkeit, mit der man die eigene Umgebung und sich selbst hinterfragt.

Im Grunde ist es eine durchwegs pessimistische Sicht. Von jeher, das vermitteln die Bücher, wird achtlos mit der Welt und den Menschen umgegangen. Und diese Achtlosigkeit, die jedem Einzelnen von uns innewohnt, zeigt sich auch in der Sprache – Gewalt wird durch Sprache legitimiert, vorweggenommen oder wachgerufen.

Cover: Luchterhand

Ein Postkasten, das bloße Wort "letterbox", ist für Daniel Gluck im Internierungslager eine Verheißung des nach wie vor möglichen Dialogs. In Ashleys Lexikon dagegen wird der Vorfall dargelegt, wie dieses Wort durch den Artikel eines britischen Politikers, der später zum Premierminister aufsteigen wird, eine gänzlich andere Bedeutung erhielt.

Er sei nicht intolerant, schrieb der damalige Foreign Secretary, jedoch würden muslimische Frauen in Burkas wie Postkästen aussehen. Es mochte nebensächlich wirken, doch war es offenbar der letzte nötige, offiziell abgesegnete Stoß, um rassistische Attacken zu motivieren; nach der Veröffentlichung sorgte der Kommentar zu einer Zunahme von antimuslimischen Übergriffen.

Zutieftst menschlich

Die Bedeutungsvielfalt findet jedoch auch ein verspieltes Gegenstück. Jedem der vier Romane ist ein Werk von Shakespeare eingewoben (A Winters Tale etwa dem Sommer), das Stück wird umgedeutet, weitergedacht. Die Jahreszeiten postulieren, dass Kunst und Literatur eine Macht besitzen, die uns herausfordert und stört. Einsteins Schriften, Verweise auf Dickens und Charlie Chaplin, auf Kurt Schwitters oder Katherine Mansfield: Die Romanfiguren gehen einen "dance macabre" ein mit jenen, die an der Welt bereits gescheitert sind, aber vielleicht etwas hinterlassen haben, das Orientierung geben kann.

Es ist ein Echo, das sich bis in den Lesenden erweitert. Eine feministische Kunstgeschichte steckt darin, Tacita Dean, Pauline Boty oder Barbara Hepworth bedingen ein längst überfälliges Untergraben des Bildungskanons. Die Jahreszeiten suchen das Vergessene, das Abseitige. Und sie suchen Streit und Konfrontation, vor allem aber suchen sie das Jenseits. Es ist ein wiederkehrendes Merkmal ihres Œuvres: Im Schreiben huldigt Ali Smith den Toten und treibt sie zugleich aus.

Cover: Luchterhand

Ihre Geister besitzen eine augenzwinkernde physische Qualität. In Winter ist es ein steinerner Kopf, der eines Tages auftaucht und zu einem schwebenden Begleiter wird. Und in Artful – vier Poetikvorlesungen, die zu einer Art Roman geformt sind, über eine Frau, die den Tod ihrer Lebensgefährtin zu verarbeiten versucht – bleibt die Verstorbene stets anwesend, als Staub beispielsweise, der zwischen den Seiten eines Buches hervorrieselt.

Etwas Körniges, Körperliches haftet dem Dialog mit dem Tod an. Das Schuttwerk ist nicht abzuschütteln, so penibel man auch saubermacht, die Spuren bleiben. Die Sätze mögen prägnant und geschliffen sein, zwischen ihnen knirscht das feine Sediment der Trauer.

Es ist im besten Sinne eine dreckige Literatur: Sie handelt vom Sterben, vom unwiederbringlichen Abschied, von den Verfehlungen, die wir mit uns tragen, dem schlechten Gewissen. Und zugleich lässt sie einen Ausblick frei. Auf Vergebung oder zumindest auf ein Verständnis, dass all diese Trauer und die Schuld, die man innerhalb eines Lebens auf sich lädt, etwas zutiefst Menschliches ist.

Österreichischer Staatspreis

Hoffnung blitzt zwischen den Zeilen, ohne greifbar zu werden. Dafür schreibt Ali Smith viel zu behutsam. However vast the darkness / we must supply our own light. Dieses Zitat von Stanley Kubrick ist Summer vorangestellt. Wie tief die Dunkelheit auch sei / wir müssen das Licht selbst mitbringen. Und ja, die Zeiten sind nicht nur im Jahreszeitenquartett finster.

Aber ja, wann sind sie das nicht. Man kann selbst ein Licht sein, diese Ahnung bleibt nach der Lektüre der Bücher von Ali Smith. Und um dieses Licht zu entzünden, gibt es solche Texte, deren Autorin nun mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet wird. (Robert Prosser, ALBUM, 23.7.2022)