Putins "Militäroperation" leistet wahrscheinlich einen unverzichtbaren Beitrag zum Nation-Building der Ukraine.

Foto: Reuters / Sarah Silbiger

Putins Krieg stützt sich in seiner ideologischen Rechtfertigung auf zwei Narrative. Erstens behauptet er, seine Aggression sei "nichts weiter als" eine Reaktion auf die (drohende) Erweiterung der Nato, also letztlich defensiv. Zweitens missbraucht er die Geschichte, indem er in Texten, Reden und Interviews die These aufstellt, Russen und Ukrainer bildeten eine historische Einheit und der ukrainische Staat sei ein von den Bolschewiken geschaffenes künstliches Gebilde.

Serhii Plokhy, 1957 mit ukrainischen Eltern in Russland geboren, aber in der Ukraine aufgewachsen, derzeit Professor an der Harvard University, beteiligt sich mit seinem Buch an diesem "Krieg der Narrative". Putins Narrativ hält – so seine These – einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Das Buch versammelt 21 Kapitel, die größtenteils vor 2022 geschrieben worden sind. Sie behandeln die wechselhaften Beziehungen der Ukraine zu Russland und zum "Westen" von den Kosaken und der ersten Erwähnung der Ukraine bis in die Gegenwart. Schwerpunkte sind "das rote Jahrhundert", also die Sowjetherrschaft, sowie ihr Zusammenbruch.

Den Kontinent neu denken

Ausführlich behandelt Plokhy den Holodomor, die planmäßige Ermordung von Millionen ukrainischen Bauern 1932–33, denen die Lebensgrundlage durch "Getreideextraktion" entzogen wurde. Stalin verbot gleichzeitig die ukrainische Sprache und versuchte, die politische und intellektuelle Elite des Landes auszuschalten. Das letzte Kapitel ("Den Kontinent neu denken") widmet sich der "Vision einer Ukraine als eines integralen Teils Europas und eines zukünftigen Mitglieds der Europäischen Union".

Serhii Plokhy,"Die Frontlinie. Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde". 23,90 Euro / 544 Seiten. Rowohlt-Verlag, 2022
Cover: Rowohlt

Das Buch genügt höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen, ist ausgezeichnet geschrieben und fasziniert durch detaillierte Studien. So behandelt ein Kapitel ("Der amerikanische Traum") die Liebe der Ukrainerin Sinaida Tkatschenko zu einem US-amerikanischen Flugzeugmechaniker. Die Beziehung wurde vom russischen Geheimdienst sabotiert, der Frau die Ausreise ins Ausland verunmöglicht. Zwei Essays über die Reaktorkatastrophe von Tschornobyl (auf Russisch Tschernobyl) thematisieren die Militarisierung der sowjetischen Wirtschaft, die mangelnde Professionalität des Personals und die Fastkatastrophen davor.

Die Katastrophe leitete aber nach Plokhy auch den Beginn der Auflösung der Sowjetunion ein: "Tschornobyl rüttelte die Ukraine wach, die Katastrophe warf grundlegende Fragen zur Beziehung zwischen der Zentralregierung und den Republiken sowie zwischen der Kommunistischen Partei und dem Volk auf und befeuerte die erste größere öffentliche Debatte in einer Gesellschaft, die nach Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft versuchte, ihre Stimme wiederzufinden."

Die ukrainischen Grünen

Aus der entstehenden Opposition gingen etwa die ukrainischen Grünen hervor – die erste echte Partei der Ukraine seit den 1920er-Jahren. Bei einem Referendum im Dezember 1991 stimmten über 92 Prozent für die Unabhängigkeit des Landes. Nicht thematisiert werden innenpolitische Aspekte der Ukraine oder die Beteiligung von ukrainischen Kollaborateuren am Holocaust. So bleibt das Massaker von Babyn Yar unerwähnt.

Putins "Militäroperation" leistet wahrscheinlich einen unverzichtbaren Beitrag zum Nation-Building der Ukraine, zu nationalen ukrainischen Narrativen, zur Weiterbildung einer nationalen Identität. Letztere lässt sich bestens durch Abgrenzung, vor allem durch Abgrenzung gegenüber einem äußeren Feind, fördern. Hat Hobbyhistoriker Putin diese Mechanismen mitbedacht, als er 2014 seinen Konflikt mit der Ukraine begann? Das lässt sich sehr bezweifeln. (Georg Cavallar, ALBUM, 23.7.2022)