Ein russischer Gaslieferstopp würde in Europa spürbare Konsequenzen haben.

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Fest steht, dass Russland unter Präsident Putin der Aggressor ist, dass allein wegen der Tatsache der Aggression eine entschlossene Antwort nötig ist: Halt! Natürlich müssen wir die Ukraine bei ihrer Gegenwehr unterstützen, ist es doch auch unser Krieg, der da geführt wird.

Kriege, die kein festgelegtes Kriegsziel kennen, tendieren aber dazu, sich in die Länge zu ziehen. Über die von Putin angestrebten Kriegsziele kann man nur Rätselraten. Im Moment sieht es danach aus, als würde er durch wahllose Angriffe auf das Hinterland versuchen, seine Position zu "stärken".

Die Kriegsziele der Ukraine, soweit von Präsident Selenskyj propagiert, erscheinen, im Moment jedenfalls, als unrealistisch: Wiedergewinnung der gesamten Ostgebiete sowie, als besonderer Höhepunkt, Rückeroberung der Krim.

Kriegsziele

Nun ist es nach dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker allein Sache der Ukraine, das heißt ihrer Führung, das Kriegsziel zu benennen. Im gegebenen Fall sind allerdings die Staaten Westeuropas – neben insbesondere den USA – einerseits durch die verhängten Sanktionen, andererseits durch die Waffenlieferungen, Ausbildungsangebote etc. stark involviert.

Allein nach dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit steht den involvierten Staaten ein Ein- oder Mitspracherecht in der Frage der Kriegsziele zu. Zahlen die Ukraine und das ukrainische Volk den vollen Preis – Menschenopfer, unermessliches Leid, Vertreibung und Zerstörung –, zahlen die Staaten Westeuropas und ihre Völker doch in gewisser, freilich vergleichsweise noch harmloser Weise mit.

Auffällig jedenfalls, dass eine Abstimmung oder Diskussion über die Kriegsziele nicht stattzufinden scheint. Am Ende kriegerischer Auseinandersetzungen steht meist ein wie auch immer gearteter internationaler Vertrag, der Ansprüche festschreibt, Garantien regelt etc. Auch in dieser Hinsicht ist, zumindest für den aus den Kabinetten ausgesperrten Normalbürger, kaum Bewegung erkennbar.

Frage der Waffenlieferung

Zur Frage der Waffenlieferungen: Es ist unklar – wird in den Medien auffälligerweise nicht thematisiert –, wer denn eigentlich für die vielen Waffen aufkommt. Sind das Geschenke an die Ukraine? Muss die Ukraine, zumindest teilweise, dafür bezahlen? Ist der Vorgang nach Art einer Lease geregelt, ähnlich wie zwischen Großbritannien und den USA im Zweiten Weltkrieg?

Sollten die Waffen geschenkt sein, wären die Schenker die jeweiligen Staatsvölker. Gleich ob arm oder reich, jeder würde da mitschenken. Den Profit aus dem Vorgang ziehen die Waffenfabriken und ihre Eigentümer. Eine Konjunktur auf Grundlage eines Krieges ist immer eine Konjunktur auf Pump. Krieg ist immer auch Geschäft, und zwar ein tolles.

Nun liegt es offen zutage, dass die Gesellschaften Westeuropas, ob wir nun Frankreich, Deutschland oder Italien hernehmen – die Kenntnis der österreichischen Zustände darf vorausgesetzt werden –, dass diese Gesellschaften allesamt mit schwerwiegenden Problemen zu kämpfen haben, als da wären: Unerschwinglichkeit von Wohnraum für größere Bevölkerungsgruppen, insbesondere für junge Leute; prekäre Arbeitsverhältnisse, deren Löhnung die Lebenskosten kaum abzudecken vermag; das immer weitere Aufgehen der Schere zwischen Arm und Reich – die Corona-Krise und jetzt der Krieg haben die Situation noch zugespitzt.

Schwelendes Unbehagen

Zu glauben, dass der Krieg, der die Probleme momentan in den Hintergrund hat treten lassen, sie zum Verschwinden bringen wird – in einer Art idealistischer Euphorie –, ist illusorisch. (Das Thema Umwelt, beinah täglich werden wir damit konfrontiert, hat sich, scheint’s, gleichsam in Funken und Rauchwolken, in geistlose Hitze und Staub aufgelöst.)

Die angesprochenen Probleme bestehen jedenfalls weiter, im Gegenteil, sollte es zur möglichen, auch gefürchteten Retaliation durch Russland kommen – Stichwort: Erdgasboykott –, würden sie schlagartig verschärft und noch krasser hervortreten, was für den inneren Frieden, die Stabilität der angesprochenen Gesellschaften gefährlich sein könnte. Nicht nur, wie spekuliert wird, die russischen Verhältnisse unter Putin könnten sich als wackelig erweisen, dasselbe gilt auch für die Staaten Westeuropas.

Umso auffälliger, dass abgesehen von Diskussionen im kleinen Kreis, einem weitverbreiteten, schwelendem Unbehagen, gelegentlich einem Aufflackern von Angst in den Zivilgesellschaften der in Rede stehenden Länder wenig Bewegung zu bemerken ist. Die Parteienlandschaft bleibt – rechnet man die populistisch-rabiaten Forderungen von rechts ab – einstweilen noch weitgehend ruhig. (Verwerfungen in Frankreich und Italien sind aber bereits da.) Momentan scheint eine Art von Fatalismus hie, von idealistischem Rausch dort die Sachfragen zu überdecken.

Solidarität und Hilfe

Wenn etwa Frau von der Leyen, um ein Beispiel zu nennen, davon spricht, die Ukraine möge am europäischen Traum teilnehmen, darf doch gefragt sein, was damit gemeint ist. Ja, Freiheit ist ein großer, ein fundamentaler Wert, ebenso wie Zusammenstehen, das heißt Solidarität und gegenseitige Hilfe. Einen Blick auf die Verhältnisse zu werfen, wie sie nun – leider – einmal bestehen, muss allerdings gestattet sein, ohne den Frager gleich unter den Verdacht der Kaltherzigkeit, der Drückebergerei, des Defätismus zu stellen.

Vielfach ist jetzt zu hören, eine neue Zeit sei angebrochen. Das stimmt wohl, was aber nicht bedeutet, dass die Probleme von früher sich dadurch in Luft aufgelöst hätten. Die Rabulistik von der neuen Zeit erinnert ein wenig an jene von der großen Zeit. Für große Zeiten mussten immer insbesondere diejenigen herhalten, die schon für die früheren kleinen herhalten mussten – kein erfreulicher, vielmehr ein bedenklicher, ein brisanter Befund. (Peter Rosei, ALBUM, 23.7.2022)