Um große Gesten ist Patti Smith nie verlegen.

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Zwei Jahre hat Wien warten müssen, Donnerstagabend war es endlich so weit: Patti Smith spielte in der ausverkauften Arena und zelebrierte eine Ode an das Leben. "A celebration of life" mit all seiner Unvollkommenheit, Liebe und Grausamkeit. Mit all seiner poetischen Wucht und Brutalität. Keine kennt es besser als Patti Smith, Ikone der Frauenbewegung, Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin, Universalkünstlerin und stimmgewaltige Legende.

Zum Einstieg gibt Smith, passend zur den einstimmenden Reggae-Sounds aus den Arena-Boxen, ein sommerlich-leichtes Redondo Beach. "Ich will ehrlich mit euch sein. Ich bin noch ein bisschen langsam", entschuldigt sie sich bei ihren Fans. Die Hitze und Feuchtigkeit machen ihr zu schaffen, so die 75-Jährige. Drei Songs später merkt man davon nichts mehr. Beim Bob-Dylan-Cover The Wicked Messenger offenbart sich Smiths Urgewalt, Urschrei inklusive. Wie keine andere lässt Patti Smith Musik und Poesie miteinander verschmelzen. Als endlich ein laues Lüftchen aufkommt, inspiriert es sie zu einem spontanen Haiku auf der Bühne: "Breeze, please multiply. Send your breezy self over to the poeple."

Aus der Zeitkapsel

Es ist Abend wie in einer Zeitkapsel, in der sich Neil Young, Iggy Pop, Lou Reed, Bruce Springsteen und Bob Dylan zum gemeinsamen Jammen treffen. Mitten unter ihnen: Patti Smith, die sich ein anarchisches Free Money von der Seele schreit. Wut und Zärtlichkeit, Intimität und Ekstase – wie keine andere zelebriert Smith die Verbindung von rotzigem Punk und Innehalten. Etwa bei der Nummer Nine, die sie für Johnny Depp schrieb. Oder bei der Soloperformance von Neil Youngs After The Gold Rush. Zum Niederknien.

"Life – it's the best fuckin' thing we have", sagt Patti Smith – und überlässt kurzerhand ihrer großartigen Band die Bühne. Bassist Tony Shanahan und Gitarrist Jackson Smith, Pattis Sohn, zelebrieren daraufhin ein atemberaubendes, minutenlanges Solo in Beneath The Southern Cross, das das Publikum in Trance versetzt.

Als Patti wieder auf die Bühne tritt, hat sie ein Blatt in der Hand und eine Lesebrille auf der Nase. Zum 25. Todestag Allen Ginsbergs exerziert sie dessen Gedicht Footnote to Howl. Alles ist heilig, die Nase, die Hand, das Arschloch. In den eigenen Adern gefriert das Blut. Patti Smith indes schnappt sich die Gitarre und gibt ein wunderbares My Blakean Year. Spätestens jetzt wünscht man sich, der Abend möge niemals enden.

Wut und Verachtung

Die Halbzeit läutet Iggy Pops Punk-Rock-Hymne I Wanna Be Your Dog ein, die Gitarrist Lenny Kaye auf die Bühne rotzt. Fast schon lieblich klingt hingegen Lou Reeds Walk On The Wild Side in der Interpretation von Bassist und Keyboarder Tony Shanahan. Den Kultsong Pissing In A River widmet Smith dem 2017 verstorbenen Viennale-Direktor Hans Hurch und erzählt, wie sie der Freund mit dem langen schwarzen Mantel einst ins bulgarische Kulturinstitut im Haus Wittgenstein schummelte, damit sie dort fotografieren kann.

Nach eineinhalb Stunden ist Patti Smith in ihrem Element. Rockig, punkig und rotzfrech. "Jesus died for somebody's sins but not mine", singt sie und schlatzt mit einer Mischung aus Wut und Verachtung auf den Bühnenboden. Da sind aber auch unendlich viel Liebe und Zuneigung. Etwa für Fred "Sonic" Smith, Pattis große Liebe und späteren Ehemann, der in den frühen Neunzigern mit nur 46 Jahren an Herzversagen starb.

Und so widmet sie Because The Night ihrem "most awesome boyfriend ever". Freitagabend bespielt Patti Smith noch einmal die Arena, dieses Mal für die Volkshilfe-Aktion Nacht gegen Armut. Das Konzert ist ausverkauft, aber mit ein bisschen Glück verkauft jemand seine Karten. Hingehen, das Leben zelebrieren und sich daran erinnern, dass wir es in der Hand haben: "People have the power." (Miriam Damev, 22.7.2022)