Anton Mattle will Tirol als Landeshauptmann in ruhigere Zeiten führen. Doch zuerst gilt es, eine Landtagswahl zu schlagen.

Foto: kristen-images.com / Michael Kristen

Er gilt als erfahrener Krisenmanager und ist über die Parteigrenzen hinweg beliebt. Nun führt Wirtschaftslandesrat Anton Mattle die angeschlagene Tiroler Volkspartei (ÖVP) nach dem angekündigten Rückzug von Landeshauptmann Günther Platter in die vorgezogene Landtagswahl am 25. September.

STANDARD: Herr Mattle, Sie haben sich selbst einmal als Tiroler bezeichnet, der eher in der Tradition von Michael Gaismair als der von Andreas Hofer steht. Was ist der Unterschied?

Mattle: Beide sind große Persönlichkeiten, meine Ähnlichkeit mit Gaismair liegt darin, dass ich einen starken Zugang zu sozialen Themen habe. Zudem fasziniert mich an ihm, dass er Themen angesprochen hat, die noch heute große Aktualität haben. Ein Punkt in seiner Landordnung war etwa: "Reißet die Stadtmauern nieder, die Menschen am Lande und in der Stadt sind dieselbigen." Mir geht es ganz stark um die Chancengleichheit zwischen ländlichem und urbanem Tirol und darum, dass die Menschen, egal ob sie in den Tälern oder Städten wohnen, zusammenwachsen und sich als Einheit fühlen.

STANDARD: Sie treten nach dem überraschenden Rückzug von Landeshauptmann Günther Platter als Spitzenkandidat der Tiroler Volkspartei zur Landtagswahl an. Platter wird aber bis zur Wahl im Amt bleiben. Sehen Sie das nicht als Nachteil, wenn es darum geht, Ihr eigenes Profil zu schärfen?

Mattle: Wir haben das besprochen und im Sinne des Landes so entschieden. Denn es ist ein kurzes Zeitfenster bis zur Wahl am 25. September. Ein Wechsel würde sehr viel Unsicherheit bringen. So kann der Landeshauptmann seine Aufgabe als Regierungschef weiterführen, ich meine als Wirtschaftslandesrat. Dazwischen bleibt genug Zeit, um ordentlich wahlzukämpfen. Eine für Tirol günstige Lösung.

STANDARD: Weniger günstig ist die Ausgangssituation der ÖVP. Umfragen sahen sie zuletzt bei nur mehr 30 Prozent, 2018 holte Platter noch 44 Prozent. Intern gab es gröbere Unstimmigkeiten zwischen Landeshauptmann und Wirtschaftsbund. Warum tun Sie sich das nun an? Man hat den Eindruck, Sie können nur verlieren.

Mattle: Ja definitiv, das ist einer der Zugänge. Auf der anderen Seite habe ich mich sehr bewusst dafür entschieden. Die Zeiten sind schwierig, eine Krise wird von der nächsten eingeholt. Für mich ist es eine Chance, das Land aus einer führenden Position heraus mitzugestalten. Ich habe das Gefühl, Sympathien und Herausforderungen, das wird sich die Waage halten. Daher habe ich diese Herausforderung leidenschaftlich gerne angenommen.

STANDARD: Gibt es für Sie beim Wahlergebnis eine Untergrenze, also Verluste, ab denen Sie sagen würden, das ist ein Zeichen, nicht weiterzumachen?

Mattle: Die 30 Prozent sind eine Zahl, die es auf alle Fälle zu toppen gilt. Ansonsten bin ich der Typ Mensch, der in schwierigen Zeiten nicht davonläuft. Deshalb habe ich mir keine fixe Grenze gesetzt. Ich versuche nun zu mobilisieren und vereine meine Leute hinter mir.

STANDARD: Wenn Sie von Ihren Leuten sprechen: Sie ließen zuletzt damit aufhorchen, dass Sie auf die Unterstützung von Bundeskanzler Karl Nehammer im Wahlkampf verzichten werden. Befürchten Sie davon eher negative Auswirkungen?

Mattle: Zur Zusammenarbeit Toni Mattle und Karl Nehammer ist festzustellen: Im Moment haben wir so große Probleme und Krisen, da ist diese Zusammenarbeit sehr wichtig. Der Kanzler wird beim Bundesländertag in Alpbach dabei sein, wir und die anderen Landeshauptleute werden uns dort mit ihm austauschen. Und sonst ist Karl Nehammer auch willkommen.

STANDARD: Aber eine Einladung zu Wahlkampfveranstaltungen seitens der Tiroler Volkspartei gibt es nicht?

Mattle: Generell war ein Wahlkampf angedacht, der sehr selbstständig ist. Aber der Herr Bundeskanzler ist natürlich eingeladen, uns zu unterstützen.

STANDARD: Also eine gewisse Abgrenzung von der Bundespartei?

Mattle: Wir sind eine Volkspartei, und für uns in den Ländern ist es wichtig, gute Ansprechpartner im Bund zu haben, mit denen wir gut zusammenarbeiten.

STANDARD: Im Zentrum dieser Zusammenarbeit steht derzeit die Energiekrise. Wie ist aktuell Ihre Position zu einem Preisdeckel für Strom und Gas – und wie jene der Bundespartei? Hat man sich da einigen können?

Mattle: Es gibt dazu einen täglichen Austausch. Aber bei Strompreisen ist Österreich sehr bunt. Von Tiroler Seite haben wir den Strompreisdeckel nie ins Spiel gebracht, weil unser Landesenergieversorger (Tiwag, Anm.) am günstigsten anbietet. Wir müssen eine österreichweite Lösung zustande bringen, um Ungleichbehandlungen zu verhindern. Noch lieber wäre mir eine europäische Lösung in Form des Gaspreisdeckels. Denn Gas ist der Preistreiber – bei Strom und Lebensmittelproduktion. Es wäre wichtig, dass die europäische Gaseinkaufsplattform schneller in Betrieb geht. Denn die Gasverkäufer haben es im Moment sehr leicht, jeder klopft dort an und fragt nach dem Preis, und jeden Tag steigt er. Gemeinsam einzukaufen würde Preisvorteile für Europa bringen.

STANDARD: In Tirol fordert die Opposition von Ihnen als Aufsichtsratsvorsitzendem der Tiwag, beim Strompreis einzugreifen. Gibt es eine Preisgrenze, ab der Sie das tun würden?

Mattle: Das ist eine Forderung, die dem Wahlkampf geschuldet ist. Alle Parteien wissen, dass der Strompreis in Tirol bis zum 1. Juni 2023 nicht höher ist als in den letzten Jahren. Das ist eine Komfortposition, und in dem Fall muss aktuell in diesem Bereich auch nicht nachgearbeitet werden.

STANDARD: Neben der Energiekrise ist die Corona-Pandemie seit zwei Jahren zentrales Thema. Sind Sie als Wirtschaftslandesrat in den Krisenstab des Landes eingebunden?

Mattle: Ich bin als Landesrat eingebunden und habe mich mit der Einsatzleitung getroffen. Corona ist nicht vorbei, und es braucht Strategien für die kommenden Monate. Aber niemand kann sagen, was auf uns zukommt. Ein schwieriges Thema, aber wir beobachten es genau, um rechtzeitig reagieren zu können.

STANDARD: Wie steht Tirol nach zwei Pandemiejahren wirtschaftlich da?

Mattle: Interessanterweise hat die Tiroler Wirtschaft in den Corona-Pausen sehr gut reüssieren können. Starkes Wachstum, massiver Rückgang bei der Arbeitslosigkeit. Wir hatten in Tirol noch nie so viele Menschen in Beschäftigung wie derzeit – 351.000, Vollbeschäftigung. Also der Wirtschaft geht es an und für sich gut. Das Wechselspiel zwischen Tourismus und Gewerbe sowie Industrie in Tirol ist ein guter Mix, um die Verwerfungen auszugleichen.

STANDARD: Es herrscht zwar Vollbeschäftigung, aber vielen Branchen fehlt Personal. Sie haben sich für Lockerungen beim Zugang zur Rot-Weiß-Rot-Karte ausgesprochen. Treten Sie angesichts der Lage für Veränderungen in der Migrationspolitik ein?

Mattle: Gerade im Tourismus fehlen uns Saisonniers. Daher müsste neben der Rot-Weiß-Rot-Karte auch beim Saisonnierskontingent nachgebessert werden. Wir haben europaweit eine sehr niedrige Arbeitslosigkeit von nur rund sechs Prozent, das gab es noch nie. Der Markt an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist EU-weit ausgeschöpft. Hier kann auch die Digitalisierung helfen, wenn der eine oder andere offene Arbeitsplatz dadurch ersetzt wird. Aber betrachtet man die Geburtenzahlen in Tirol, so hatten wir in den 1960ern noch 11.600 Geburten pro Jahr, in den letzten sieben Jahren waren es im Durchschnitt nur noch 7.400. Es fehlen uns aus den eigenen Reihen 4.000 Geburten pro Jahr, also hochgerechnet auf zehn Jahre 40.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

STANDARD: Sie waren 29 Jahre lang Bürgermeister von Galtür und haben sich während der Lawinenkatastrophe 1999 als besonnener Krisenmanager erwiesen. Der direkte Nachbarort Ischgl stand 2020 wegen Corona international im Fokus. Würden Sie rückblickend sagen, Tirol hätte in Ischgl in Sachen Krisenmanagement besser reagieren können?

Mattle: Nach 1999 habe ich mir angewöhnt, bei Großschadensereignissen sehr genau hinzusehen. Wie gehen Menschen, wie geht die Öffentlichkeit, und wie gehen die Medien damit um? Keine Katastrophe ist wie die andere. Und dass man in einer solchen Situation alles richtig macht, das gibt es nicht. Es geht darum, alles möglichst gut und menschlich zu machen. Das Kernproblem dieser Pandemie war, dass sich dieses Virus rasend schnell verbreitet hat, und wir alle mussten lernen, damit umzugehen.

STANDARD: Haben Sie Pläne, wie man das Image Tirols, das in dieser Zeit doch gelitten hat, wieder aufpolieren oder verbessern kann?

Mattle: Nach zwei Jahren Pandemie hat die Gesellschaft weltweit erkannt, dass Corona kein lokales Phänomen ist. Und wenn man sich unsere Tourismusorte ansieht, dann waren die zuletzt wieder sehr erfolgreich. Am Image zu arbeiten ist immer gut. Daher glaube ich, dass der im letzten Jahr definierte "Tiroler Weg" im Tourismus – mehr Qualität und weniger Quantität – ein starkes Zeichen ist.

STANDARD: Der Wintertourismus steht durch die Absage der Gletscherehe Ötztal-Pitztal aktuell wieder im Fokus. Wie stehen Sie zur Zukunft des Skifahrens?

Mattle: Rund 80 Prozent der Gäste kommen im Winter wegen des Skifahrens nach Tirol. Also müssen wir dem Skilauf weiter einen gewissen Raum geben. Dass er eher in höhere Lagen ziehen wird, hängt mit dem Klimawandel zusammen. Wenn man nun über Gletscherskigebiete spricht, gibt es da Bestandsanlagen, die weiter funktionieren sollten. Ansonsten gilt es, auf den Gletscherschutz zu schauen.

STANDARD: Ihr Koalitionspartner Gebi Mair von den Grünen forderte die ÖVP zuletzt auf, die ausgewiesenen Erweiterungszonen bei den Gletscherskigebieten abzuschaffen. Das wäre mit einem Regierungsbeschluss möglich. Würden Sie da mitziehen?

Mattle: Nicht alles muss in der kurzen Zeit bis zur Landtagswahl beschlossen werden. Das sind raumordnerisch und naturschutzrechtlich sehr wesentliche Fragen, die von einer neuen Regierung ordentlich bearbeitet werden müssen. Nach dem Wahlkampf ist die Zeit zu entscheiden.

STANDARD: Ein anderes heikles Naturschutzthema ist der Ausbau erneuerbarer Energien. Wie stehen sie zu den einzelnen Technologien und deren Ausbaupotenzial in Tirol?

Mattle: Tirol hat beste Voraussetzungen, die Energiewende regional zu schaffen und im Laufe der Zeit energieautonom zu werden. Am wichtigsten ist das Energiesparen, das müssen wir forcieren. Bei Wasserkraft gilt es noch, 2.400 GWh pro Jahr auszubauen, und bei Photovoltaik sind 3.300 GWh möglich. Das würde bedeuten, jedes Tiroler Haus in günstiger Lage sollte mit Photovoltaik ausgestattet werden. Dann haben wir ein nicht geringes Potenzial an Biomasse, wir können sogar schon Biogas erzeugen. Bei Wärmepumpen und Nahwärmenetzen sind wir auch nicht schlecht aufgestellt. Zum Thema Windkraft, die ich keineswegs ablehne, ist zu sagen, das technisch mögliche Potenzial liegt in Tirol bei 900 GWh. Allerdings liegen 75 Prozent dieser Flächen in Landschaftsschutzgebieten, es bleibt somit ein Potenzial von 250 GWh. Wenn sich aber eine Gemeinde findet, die einen geeigneten Platz für Windräder hat, bin ich technologieoffen. Oberste Ziele sind Energiewende, Klimaschutz, Energieautonomie. Man darf nicht vergessen, dass gerade in der Energiewende großes wirtschaftliches und damit Arbeitsmarktpotenzial steckt.

STANDARD: Noch eine Frage zur Landtagswahl. Sie sagen, für jede Koalitionsvariante offen zu sein. Nur bei der FPÖ verweisen Sie auf die Frage des politischen Stils, der sie als Partner eher ausschließe. Wie stehen Sie zu einer etwaigen Dreierkoalition?

Mattle: Man kann in diesen Zeiten nichts ausschließen. Ich erlebe jeden Tag, dass Zweierkoalitionen für die Zusammenarbeit durchaus Vorteile haben. Aber diese Frage ist zu früh gestellt. Das andere haben Sie schon gesagt: Der politische Stil ist mir definitiv ein Anliegen.

STANDARD: Zuletzt tauchte das Thema Agrargemeinschaften und die Forderung nach einer Rückübertragung dieser Grundstücke, die rund ein Fünftel der Tiroler Landesfläche ausmachen, an die Gemeinden wieder auf. Ihr Parteikollege und Bürgermeister von Sölden, Ernst Schöpf, hat sich dafür ausgesprochen. Würden Sie als Landeshauptmann eine Rückübertragung unterstützen?

Mattle: Ich war überrascht, dass dieses Thema nach acht Jahren noch einmal aufgepoppt ist. Zum einen gibt es klare Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes, zum anderen gibt es mit dem Landesflurverfassungsgesetz eine rechtliche Grundlage für die jetzige Situation. Das war für mich rechtlich erledigt, und draußen in den Gemeinden ist es keine Diskussion mehr. Ich werde mich aber mit dem Gemeindebundpräsidenten Ernst Schöpf treffen und seine Anliegen besprechen.

STANDARD: Beim Thema Transit zeichnet sich für die kommende Legislaturperiode eine weitere Zuspitzung an: Das Verkehrsaufkommen steigt, und mit der notwendigen Teilsperre der Luegbrücke am Brenner wegen Renovierungsarbeiten drohen massive Behinderungen. Welche Lösungen hätten Sie dafür als Landeshauptmann?

Mattle: Leben und Wirtschaft brauchen Mobilität, das ist mein klassischer Zugang. Als Wirtschaftslandesrat habe ich Kontakt mit meinen Kollegen in den Nachbarländern aufgenommen. Wir alle wissen, bis die Bahnlösung mit dem Brennerbasistunnel funktioniert, werden noch zehn oder 15 Jahre ins Land ziehen. Aber das von unseren Nachbarn so gescholtene Dosiersystem der Blockabfertigung ist ein intelligentes Verkehrsleitsystem. Unser Anliegen ist es – und es sieht so aus, dass Südtirol und Bayern hier nun mitarbeiten wollen –, dieses Verkehrsleitsystem auszudehnen. In Tirol haben wir von Kufstein bis auf den Brenner eine Strecke von 120 Kilometern dafür. Aber wenn das über 500 Kilometer von München bis Verona gemacht wird, kann man den Verkehr viel besser steuern. Wir müssen darauf achten, dass die Verkehrssituation nicht die Gesundheit, die Natur und auch nicht – weil Sie die Luegbrücke angesprochen haben – die Infrastruktur zerstört. Gemeinsam mit den Nachbarn werden wir Verbesserungen zustande bringen, perfekte Lösungen gibt es in dem Zusammenhang nicht. (Steffen Arora, 22.7.2022)