In "Cartel Tycoon" dreht sich alles um Coca- und Opiumplantagen.

Foto: Moon Moose

"Plata o plomo?",, fragt Pablo Escobar in der Netflix-Serie "Narcos" und stellt sein Gegenüber vor die Wahl: Entweder du nimmst das Silber oder du bekommst eine Kugel. Genau das verspricht auch das am Montag in der Vollversion erschienene "Cartel Tycoon". Wir sollen unser eigenes Kartell leiten, Widersacher ausschalten, unsere Capos die Drecksarbeit machen lassen, Geld waschen und uns selbst eine Luxusresidenz bauen – wie einst Pablo mit seinen eigens für ihn importierten Nilpferden.

Das alles klingt doch nicht schlecht, und die Prämisse von Entwickler Moon Moose, die bewährte Aufbauformel in das Umfeld südamerikanischer Gangsterepen zu transportieren, ist zumindest ein so noch nicht dagewesener Ansatz. Kurz: Ein frischer kokainhaltiger Wind weht durch das Tycoon-Genre. Doch geht die Spielspaßrechnung in "Cartel Tycoon" leider nicht hundertprozentig auf.

Mehr "Tropico" als "Anno"

Wir starten auf einer genretypischen Übersichtskarte, die so auch 1:1 aus "Tropico" stammen könnte, und unser Onkel Tony – ein glatzköpfiger tätowierter und goldbehangener Klischeegangster – führt uns mit Dialog-Screens ins Spiel ein. Das Tutorial verspricht eine atemberaubende Geschichte, tatsächlich spielen wir den Poesiestudenten Mauricio, und Papa Kartellboss will, dass wir endlich ins Familienbusiness einsteigen. So weit, so wenig originell. Sehr positiv: Alle Spielmechaniken werden per kleines Videofenster am Bildschirmrand erklärt und führen durch die ohnehin hervorragend designten Menüs. Davon kann sich die Triple-A-Konkurrenz gerne eine Scheibe abschneiden.

Unsere erste kleine Opiumfarm.

Apropos "Tropico": Generell scheinen die St. Petersburger Entwickler viele Anleihen bei dem Diktatorsimulator aus dem Hause Kalypso genommen zu haben. Selbst die Fruchtbarkeitsanzeige der Böden könnte direkt aus dem geistigen Vorbild entnommen sein – aber besser gut kopiert als schlecht selbst gemacht.

Das Gameplay selbst kann man als genretypisch solide bezeichnen: Wir ziehen erst unsere Opiumfarmen hoch, verbinden diese mit einem etwas hakeligen Straßenbau-Tool mit einem Lager und sehen zu, wie die "Früchte" unserer Arbeit geerntet werden. Anschließend karren wir die Drogen zum Flughafen und schmuggeln sie so außer Landes. Damit die Behörden nicht aufmerksam werden, verstecken wir die Drogen zuerst in Feldfrüchten, später in Fernsehern und Spielkonsolen. Dafür bekommen wir schmutziges Geld, das erst gewaschen werden muss.

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Geldwäsche für Anfänger

Das ist auch der Grund, warum wir zwei verschiedene Konten haben: eines für "sauberes" Geld, ein anderes für die Einnahmen aus den weniger legalen Operationen unserer Firma. Das Geld "waschen" wir in mutmaßlich legalen Geschäften. So können wir Taxiunternehmen gründen, eine Salsabar eröffnen oder gar unseren eigenen Zirkus gründen. Sogar eine Kirche können wir bauen, um uns bei der Bevölkerung einzuschleimen. Gleichzeitig können wir im Gotteshaus mit einem Haufen Geld um Vergebung bitten, wenn wir mal wieder Dörfer überfallen oder uns Straßenschlachten mit rivalisierenden Gangs geliefert haben.

Witzig: Bauen wir die Produktionsgebäude für unsere krummen Geschäfte wie Coca-Plantagen entlang den vordefinierten Hauptstraßen auf der Map, wird die Polizei schneller auf uns aufmerksam. Es lohnt sich also, die Drogenproduktion im weniger überwachten Hinterland aufzuziehen. Mit den Gesetzeshütern sollten wir es uns ohnehin nicht verscherzen. Wurden wir beim Dealen erwischt, kann es schon passieren, dass die Polizei uns die Zufahrtstraße zu unseren Plantagen sperrt – im harmlosesten Fall.

Die Feds haben uns erwischt und überfallen eine unserer Plantagen.

Haben uns erst einmal die Feds oder gar das Militär auf dem Kieker, wird es schnell ungemütlich – und das sonst eher gemächliche Narcos-Leben wird plötzlich stressig: Straßensperren dort, bewaffnete Hausdurchsuchungen da, ein gesperrter Betrieb hier, und im Extremfall jagt die Polizei gleich unsere Produktionskette in die Luft.

Damit es nicht so weit kommt, können wir die örtlichen Bürgermeister bestechen, damit sie bei der Polizei ein gutes Wort für uns einlegen, und den Polizeichef bitten, doch für ein paar Tage in die andere Richtung zu schauen. Machen wir den Stadtoberhäuptern Geschenke oder "unterstützen" ihren Wahlkampf mit scheibtruhenweise Bargeld, schulden sie uns einen Gefallen, den wir später einlösen können. Viele sind sogar so korrupt, dass sie ihre Stadt mehr oder weniger freiwillig unter die Herrschaft unseres Kartells stellen, Hauptsache, die Kohle stimmt.

Das an sich gemächliche Dasein als Kartellboss kann durch Zufallsereignisse ganz schön stressig werden.
Foto: Moon Moose

Bevor das passiert, müssen wir aber erst andere Verbrecherbanden aus der Stadt vertreiben. Dafür lassen wir "Plomo" die Verhandlungen in Form unserer Unterbosse übernehmen. Diese sind wahre Kampfmaschinen, und zwei oder drei Capos reichen oft schon aus, um eine feindliche Stadt von unerwünschter Konkurrenz zu säubern. Leider sind ausgerechnet die Straßenkämpfe lieblos mit einem Ladebalken inszeniert, hier wäre so viel mehr drin gewesen.

Steigen unsere Bosse im Level auf, können wir ihnen unterschiedliche Fähigkeiten verleihen und sie so entweder zu Wirtschaftsexperten machen oder sie ihre Muskeln und ihre Kampfkraft trainieren lassen. In unserem Test brachten die Wirtschafts-Boni aber deutlich mehr Vorteile als die Kampfkraftsteigerungen – aber das möge jeder Spieler selbst entscheiden.

Kleines Indie-Team

Man merkt "Cartel Tycoon" an allen Ecken an, dass es von einem kleinen Entwicklerteam stammt, das noch dazu von zu Hause aus arbeitet: Die Dialogfenster sind auffallend schlicht, die Übersetzung wohl von einer Maschine gemacht, und das Writing selbst ist irgendwo zwischen "eh okay" und Fremdscham, vor allem in der deutschen Variante. Das ist auch der Grund, warum wir ab dem Tutorial zur englischen Lokalisation gewechselt sind.

Nicht alle Dialoge sind gelungen:
"Nicht mal ein Gruß? Hast du gestern mit mir geschlafen?", fragt die Bürgermeisterin. – "Verzeih, mein Freund! Aber Zeit ist Geld, stimmt's?", ist unsere Antwort.
Screenshot Cartel Tycoon

Dazu kommen noch fragwürdige Designentscheidungen, und die treffen ausgerechnet den wichtigsten Bereich eines Aufbauspiels: die Produktionsketten. Ein Beispiel: Wir verbinden unsere Marihuana-Farm mit dem Lager, das wir wiederum mit dem Trockner verbinden. So weit, so typisch. Wollen wir unsere selbstgedrehten Joints aber verkaufen, brauchen wir eine Spedition, um die Ware zum Flughafen oder zum Grenzposten zu bringen. Das führt zu der kuriosen Situation, dass ein Lastwagen Joints ins Lager neben dem Flughafen bringt, aber nur ein anderer Laster, nämlich der aus der Spedition, darf den Flughafen beliefern. Hier drängt sich der Verdacht auf, dass die Entwickler eine Warenkette strecken wollten, um dem Spieler Komplexität vorzugaukeln, wo keine ist.

Jede Stadt wird von einer Bürgermeisterin oder einem Bürgermeister geleitet, die individuelle Vorlieben haben. Das wirkt sich auch auf ihr Verhalten uns gegenüber aus.

Generell scheint man bei Moon Moose auf Grind zu setzen: Die an sich sehr originelle und frische Idee, Schwarzgeld erst waschen zu müssen, führt leider zu langen Phasen, in denen man als Spieler zum Zuschauen verdammt ist. Zwar kann man mit Forschung und einigen Charakteren die Umwandlung von dreckigem in sauberes Geld beschleunigen, aber insgesamt dauert der Prozess einfach zu lange. Schon im Tutorial muss man gut 20 Minuten warten, bis man einen Bürgermeister mit 35.000 Dollar bestechen und so die finale Quest abschließen kann.

Spielzeitstreckung mit jedem dreckigen Dollar

In der Kampagne ertappt sich unser Tester immer wieder dabei, wie er das Spieltempo auf Maximum dreht, nur um sich dann einen Kaffee zu holen und ein wenig Hausarbeit zu erledigen, während die eigenen "Narco-Siedler" Geld scheffeln. Das alles lässt sich mit Technologie beschleunigen, nur ist die Forschung derart teuer, dass man den ganz klaren Versuch seitens der Entwickler, die Spielzeit künstlich zu strecken, erkennt.

Der Forschungsbaum ist umfangreich, aber die Technologiekosten sind viel zu hoch.
Foto: Moon Moose

Dabei hat "Cartel Tycoon" so viele witzige Ideen, die das Spiel liebenswert machen. Es will gar keine knallharte Sim sein, sondern leichtfüßig daherkommen. Das merkt man auch an der kunterbunten Grafik, die eine gewisse Lockerheit versprüht und das südamerikanische Flair dabei gut einfängt. Die Musikuntermalung ist mit tropischen Stücken größtenteils gelungen – manche Tracks sind uns beim Test sogar so positiv aufgefallen, dass wir das Spiel unterbrochen und kurz die Musik genossen haben. Dennoch gibt es Stücke, die unter "Fahrstuhlgedudel aus der Nerv-Hölle" fallen.

Fazit

Ist "Cartel Tycoon" ein schlechtes Spiel? Nein, es macht in seinen besten Momenten sogar richtig Spaß, und am liebsten möchten wir uns ein Glas Rum holen, dabei eine Havanna rauchen und laut "Qué cabrón!" rufen, wenn einer unserer Lieutenants mal wieder Zweifel an seiner Loyalität aufkommen lässt, bevor wir ihn mit virtuellem "Plomo" aus der Kartellhierarchie befördern. Die Idee, schmutziges Geld in der eigenen Luxusresidenz in den Wänden und unter den Fußböden zu verstecken – und das auch noch spielmechanisch umzusetzen –, gab es in dieser Form noch nicht und verdient ein sattes Extralob.

"Cartel Tycoon" schafft es auf der anderen Seite aber auch, den Spielspaß konsequent durch Grind abzuwürgen: Warum dauert das Umwandeln von schmutzigem Geld in saubere Währung so lange, während Forschung und Gebäudebau in Sekunden erledigt sind? Wieso muss man als Spieler eine halbe Stunde warten, bis man sich selbst die einfachsten Technologien leisten kann? Die gute Nachricht daran ist: Sämtliche Mankos sind durch Patches behebbar. Für unseren Test haben wir die Early-Access-Variante gespielt, es besteht also die – wenn auch geringe – Hoffnung, dass Moon Moose mit einem Day-One-Patch noch nachbessert und am Balancing schraubt.

Dennoch: Dem kleinen Entwicklungsstudio ist im Homeoffice ein beeindruckendes Erstlingswerk gelungen – allein schon das darf man anerkennen. Wenn jetzt noch ein paar Patches den Grind eliminieren, dann steht den Spielern der Karrierepfad zum Kartellboss und dem Spiel ein wirtschaftlicher Erfolg offen. (Peter Zellinger, 25.7.2022)