Donnerstagnacht konnte man auf Twitter einen zweigesichtigen Gesundheitsminister verfolgen. Einen Johannes Rauch, der beim Viertelfinale des österreichischen Frauennationalteams gegen Deutschland mitfieberte. "Der Pfosten ist ein Vollpfosten!!!", ärgerte den erfahrenen Grünen die Glücklosigkeit der heimischen Auswahl. Währenddessen kämpfte Rauch aber selbst um sein Leiberl, verdribbelte sich zusehends und schmiss kurz nach Mitternacht entnervt alles hin: "Das war’s für mich mit spontantwitter." (sic!) Künftig werde nur noch sein Team etwas zur Corona-Pandemie posten, "nach vorheriger penibler Quellenrecherche".

Was war passiert? Einige Stunden zuvor machte ein brisanter Entwurf aus dem Gesundheitsministerium für eine neue Corona-Verordnung die Runde. Laut dem Dokument könnten die Regeln für die Corona-Quarantäne schon ab August Geschichte sein. An ihre Stelle sollen angesichts der "vergleichsweise milden Krankheitsverläufe" der Omikron-Variante und der "Problematik der Personalausfälle" sogenannte Verkehrsbeschränkungen treten. Das hieße, dass Corona-Infizierte künftig nicht mehr daheimbleiben müssten, sondern etwa auch in Disco, Sportstätten oder Schwimmbäder dürften, sofern sie eine Maske tragen. Betretungsverbote sind für besonders "vulnerable Settings" wie Gesundheitseinrichtungen vorgesehen.

Will über das Quarantäne-Aus noch nicht final entschieden haben: Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne).
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Ein Problem ist, dass diese sensible Änderung nur in schwarz-grünen Kreisen erörtert worden sein dürfte. Die SPÖ-geführten Bundesländer monierten einmal mehr, in der Pandemie außen vor geblieben zu sein. "Seit Wochen ist nach außen hin davon die Rede, dass wir angesichts der Vielzahl an Krisen an einem Strang ziehen und zusammenarbeiten sollen. Das sind alles nur Lippenbekenntnisse", polterte der burgenländische Landeschef Hans Peter Doskozil in der Gratiszeitung Heute.

Während Wirtschaftskammer und etwa der ÖVP-Landeshauptmann Thomas Stelzer aus Oberösterreich schon länger auf ein Ende der Isolationspflicht drängen, ist die SPÖ eher skeptisch. So kündigte Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker kürzlich an, ein solches "Experiment" mit einer Zwei-Millionen-Stadt nicht ohne weiteres tolerieren zu wollen.

Rauchs Eingriff wäre tiefgreifend. Bisher wurden die Regeln für die Corona-Quarantäne nie per Verordnung festgelegt. Es handelte sich um Empfehlungen, denen die Länder folgten oder auch nicht. Rauch versuchte, die Aufregung zu kalmieren, indem er erklärte, dass der Entwurf nur eine "Arbeitsfassung" und über das Quarantäne-Aus noch nicht letztgültig entschieden worden sei. Am Freitag hieß es aus dem Büro Rauchs, der 1. August sei der früheste Termin eines Inkrafttretens, den man mit "Expert:innen" diskutiere.

Auf Twitter begründete Rauch die Aufhebung von Maßnahmen wie der Quarantäne in einem Tweet, den er später löschte, so: "Dass wir 25 % plus von psychischen Erkrankungen und Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen haben ist mit Hauptgrund, warum ich bei Corona-Maßnahmen ans unterste Ende gehe, was epidemiologisch noch vertretbar ist."(sic!)

Auf welche Daten sich der Minister bezog, bleibt in der Wissenschaftscommunity ein Rätsel. Nicht nur in der Österreichs. In der Statistik Austria gibt es Zahlen zu Selbsttötungen, die alle Bürgerinnen und Bürger einsehen können. In der Tabelle "Gestorbene ab 1970", die mit dem Jahr 2020 endet, sind Selbsttötungen separat ausgewiesen und lagen im ersten Pandemiejahr 2020 bei 1072. Das sind um 41 Fälle weniger als 2019, um 137 weniger als 2018. Wobei hier nicht nach Alter unterschieden wurde. "Meines Wissens gibt es die Daten, auf die sich Rauch bezieht, aktuell überhaupt nicht", sagt der Mathematiker und Statistiker Erich Neuwirth von der Uni Wien.

Mittlerweile gelöscht: der vieldiskutierte Tweet des grünen Gesundheitsministers.
Foto: Screenshot

Auch Benedikt Till vom Zentrum für Public Health an der Med-Uni Wien sagt dem STANDARD, dass er die Quelle von Rauchs Zahlen nicht kenne. Es gebe aber zur psychischen Gesundheit in der Pandemie viele Studien unterschiedlicher Qualität mit teils widersprüchlichen Ergebnissen. Grundsätzlich sei die Gesamtzahl der Suizide in Österreich in den Pandemiejahren gesunken – aber nicht so stark, wie das manche Modellrechnungen vor Corona prognostiziert hätten.

Demgegenüber stünden aber die Angaben mancher kinder- und jugendpsychiatrischer Einrichtungen, wonach die Zahl der Suizidversuche bei ihren Patienten gestiegen sei. Till weist aber darauf hin, dass die dort behandelten Patienten in mehrfacher Hinsicht einer vulnerablen Gruppe angehörten, weil sie zum einen Jugendliche und zum anderen psychisch vorbelastet seien. Aus einem Anstieg der Fälle in dieser Gruppe könne man also keinesfalls einen Anstieg unter allen Kindern und Jugendlichen in Österreich ableiten.

Insgesamt, sagt Till, könne man nicht klar unterscheiden, ob die psychischen Folgen der Pandemie aufgrund der Krankheit entstehen oder aufgrund der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung.

"Let the data speak to you"

Nachdem sich Rauch auf Twitter auf "Gespräche mit Menschen, die im Feld tätig sind", bezog, empfahl Tyler Black, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie der University of British Columbia, Rauch, sinngemäß, statt Anekdoten "einfach Daten zu sammeln". Seine Uni habe Zahlen aus aller Welt, wonach dort, wo es in der Pandemie Abweichungen zur Zeit vor Corona gab, die Suizidrate bei Minderjährigen sank, nicht stieg. "Sir, please please please let the data speak to you", appellierte der Professor aus Vancouver an den Minister in Wien.

Auch Julian Schmitz, Experte für Kinder- und Jugendpsychologie der Uni Leipzig, teilte am Donnerstag mehrere Studien, die Rauchs Tweet widerlegten. Unter anderem eine von The Lancet, die feststellt, dass Kinder und Jugendliche in Australien psychischen Stress auch durch Covid-Infektionen erleiden.

"Man wird als Statistiker oft erst gerufen, wenn Politiker ihre Entscheidungen rechtfertigen wollen", kritisiert der Experte Neuwirth, "selten wird man bei der Entscheidungsvorbereitung beigezogen, zum Beispiel bei Wiens Bürgermeister." (Sebastian Fellner, Jan Michael Marchart, Colette M. Schmidt, 23.7.2022)