Die Astronomin Wanda Díaz-Merced forscht am Europäischen Gravitationsobservatorium bei Pisa.
Foto: European Gravitatioinal Observatory

Das Piepsen lässt sich im Kopfhörer deutlich vernehmen, während auf dem Bildschirm nichts zu sehen ist. Dabei sollte auch in der Kurve vor mir ein Ausschlag sichtbar sein, doch so sehr ich mich auch konzentriere, ich sehe dort nur Rauschen. Während ich noch darüber nachdenke, taucht auch schon die nächste Kurve auf.

Visuelle Wissenschaft

Ich absolviere gerade ein Trainingsprogramm der Forscherin Wanda Díaz-Merced. Sie steht neben mir und grinst mit dem Selbstbewusstsein von jemandem, dem es egal ist, ob er dabei beobachtet wird. Ihr Programm soll zeigen, wie wertvoll das Gehör in der naturwissenschaftlichen Arbeit sein kann, die traditionell stark visuell geprägt ist – von Diagrammen, Falschfarbenaufnahmen und komplexen Formeln auf Tafeln. Doch Wanda weiß aus eigener Erfahrung, dass es auch anders geht: Mitten in ihrem Physikstudium erblindete sie aufgrund von Komplikationen mit ihrer Zuckerkrankheit. Nach ihrem Abschluss machte sie es sich zur Aufgabe, Astronomie hörbar zu machen – für Sehende und Blinde.

Wanda forscht am European Gravitational Observatory bei Pisa. "Ich bin hier eher eine Außenseiterin", erklärt sie lächelnd. Im Umgang mit den Kolleginnen und Kollegen merkt man davon nichts, ein Schwätzchen mit dem Direktor der Anlage inbegriffen. "Wir lieben einander", betont die Forscherin. Doch Wanda hat ihre eigene Agenda.

Wissenschaft der Bilder

Kaum ein anderes Wissenschaftsgebiet ist so sehr auf den Sehsinn fokussiert wie die Astronomie. Schon antike Völker sahen zum Himmel hinauf und identifizierten Sternbilder, und als Galilei das Teleskop in die Himmelserforschung einführte, konzentrierte sich alles auf immer genauere Bilder aus dem All. Doch die Bilder haben an Bedeutung verloren, heute gibt es vor allem eine Unmenge von Messdaten einzelner Sensoren, die Magnetfelder oder Teilchenstrahlung messen. Und die werden oft als Graphen dargestellt, für die unser Auge eigentlich nicht gemacht ist. Auch unter den vielbeachteten ersten Daten des James-Webb-Teleskops befand sich, neben spektakulären Bildern, eine unscheinbare Kurve, die Auskunft über die atmosphärische Zusammensetzung eines Exoplaneten gab – ein sensationelles Ergebnis, das neben den anschaulichen bunten Fotos in der Berichterstattung unterging.

Virgo ist eines von drei Labors weltweit, in denen Gravitationswellen gemessen werden. In den beiden Tunnels werden Laser hin- und herreflektiert, um winzige Längenveränderungen zu registrieren.
Foto: Virgo Collaboration

Für ein Signal, das sich mit der Zeit ändert, haben wir Menschen einen anderen Sinn, der genau für diese Aufgabe hochoptimiert ist: das Gehör. Dass in der Astronomie nicht mehr darauf zurückgegriffen wird, ist also alles andere als naheliegend.

Programmieren nach Gehör

Vielleicht liegt es an anderen Faktoren. Moderne Astronomie basiert zu großen Teilen auf Computermethoden. Wie funktioniert Programmieren, wenn man den Code nicht sehen kann? Wanda nutzt einen gewöhnlichen Laptop, auf dem eine Assistenzsoftware installiert ist. Eine Computerstimme liest den mit dem Cursor markierten Text in erhöhter Geschwindigkeit vor. Und das funktioniert nicht immer wie geplant. Nach zehn Minuten des Probierens will das vorbereitete Programm immer noch nicht starten.

Hartnäckigkeit zahlt sich aus

"Das ist es, was Doktoratsstudierende täglich durchmachen müssen", bricht es irgendwann aus ihr heraus. "Wie lange soll das noch so gehen?" Wanda tastet nach einem Gerät an ihrem Hals, mit dem sie ihren Blutzuckerspiegel regulieren kann, bevor sie erzählt, wie sie als junge Frau ihre zunehmende Blindheit geheim halten wollte. Sie legte sich einen Blindenstock zu, ohne ihrer Familie davon zu erzählen. Es war ihr Vater, der sie eines Tages damit erwischte. Für die Familie war die Enthüllung ein Schlag, denn mit besserer medizinischer Versorgung hätte Wandas Zuckerkrankheit behandelt und der Verlust ihrer Sehkraft verhindert werden können. Normalerweise bedeutet Blindheit das Ende einer Karriere in der Naturwissenschaft, doch Wanda blieb hartnäckig und beendete ihr Studium.

Seither hat ihre Forschungstätigkeit sie um die ganze Welt geführt, von Anstellungen bei der Nasa und in Harvard über Südafrika und Japan nun eben nach Pisa zu Virgo. Sie gilt als Vorreiterin für Inklusion in der Naturwissenschaft. Doch das genügt ihr nicht, sie will auch den Sehenden sinnbildlich die Augen öffnen.

Andere Wissenschaftsfelder

Am Gravitationswellenobservatorium Virgo wird mit riesigen Detektoren ins All gehorcht, um nach dem spezifischen Geräusch verschmelzender Schwarzer Löcher zu fahnden. Diese Signale kann Wanda hörbar machen. Sie ist von den Vorteilen überzeugt: "Die Kollegen hier hätten die Gravitationswellen vielleicht früher entdecken können", mutmaßt sie. Was sie mache, sei nicht nur für die Gravitationsforschung interessant, sagt Wanda: "Auch geologische Aktivität lässt sich hörbar machen, zum Beispiel Erdbeben. Sogar ein EKG, wie es gerade gestern bei mir gemacht wurde." Doch bis zur Akzeptanz von Hörmethoden in der Wissenschaft ist der Weg noch weit. Ein von ihr entwickeltes Trainingsprogramm soll helfen, die Gräben zu überbrücken. Nach den anfänglichen Problemen funktioniert das Programm schließlich doch und zeigt, wie Astronomie klingen kann. (Reinhard Kleindl, 25.7.2022)