Die Regierungen tragen heute dazu bei, eine Lohn-Preis-Spirale im Stile der 70er-Jahre zu verhindern, sagt Daniel Gros vom Centre for European Policy Studies im Gastkommentar.

Der Krieg in der Ukraine führt zu einer Preissteigerung bei Energie.
Foto: EPA / Robert Ghement

Die Ähnlichkeiten sind offenkundig. Wie in den 70er-Jahren führte 2022 ein Energiepreisschock zu einem nachhaltigen Anstieg der Preise für viele andere Waren. Die sogenannte Kerninflationsrate, die die schwankungsanfälligen Energie- und Lebensmittelpreise unberücksichtigt lässt, nähert sich inzwischen sechs Prozent in den USA und vier Prozent in der Eurozone. Und die Befürchtungen wachsen, dass sich dieser Trend wie in den 70er-Jahren als hartnäckig erweisen wird.

Keine Lohn-Preis-Spirale

Doch die 70er-Jahre wiederholen sich nicht. Ein zentraler Unterschied betrifft die Arbeitsmärkte. Damals sorgte die weit verbreitete Indexbindung der Löhne dafür, dass höhere Energie- und sonstige Preise automatisch zu einem entsprechenden Anstieg der Löhne führten. Wo die Indexbindung weniger wichtig war, setzten die Gewerkschaften dasselbe Ergebnis durch, da sie sich weigerten, eine Verringerung des Lebensstandards ihrer Mitglieder zu akzeptieren.

Das ist, zumindest in der Eurozone, heute nicht der Fall. Laut dem neuen Lohnindikator der Europäischen Zentralbank sind die Löhne in der Eurozone bisher nur um drei Prozent gestiegen – deutlich weniger als die 8,6 Prozent Inflation, die im Juni zu verzeichnen waren. Anders ausgedrückt: Es gibt keine Anzeichen für eine Lohn-Preis-Spirale wie in den 70er-Jahren.

Ein weiterer Unterschied heute ist, dass die europäischen Produzenten in der Lage waren, ihre Preise ausreichend stark zu erhöhen, um einen großen Teil des Energiekostenanstiegs auszugleichen. Basierend auf den Preisen vom Juni 2022 dürften die Kosten für die Energieimporte der Eurozone in diesem Jahr um über vier Prozent vom BIP steigen. Während des vergangenen Jahres führten steil gestiegene Energiepreise nach mehr als einem Jahrzehnt der Stabilität zu einem Anstieg der Importpreise der Europäischen Union um 24 Prozent.

Herausforderung bei Einkommensverlusten

Doch die von den EU-Exporteuren in Rechnung gestellten Preise stiegen ebenfalls um über zwölf Prozent – und die EU exportiert mehr, als sie importiert. Die europäischen Produzenten waren daher in der Lage, etwas mehr als die Hälfte ihrer durch höhere Energiepreise bedingten Einkommensverluste auszugleichen, und konnten diese knapp unter zwei Prozent vom BIP halten. Das ist immer noch eine ganze Menge, aber zu bewältigen.

Die Herausforderung wird sein, die Einkommensverluste auf die verschiedenen Wirtschaftssektoren zu verteilen. Angesichts um rund fünf Prozent gesunkener Reallöhne haben bisher die europäischen Arbeitnehmer alle inflationsbedingten Kosten getragen. Da der Lohnanteil in der Eurozone bei circa 62 Prozent vom BIP liegt, blieben den anderen Sektoren bei einem fünfprozentigen Rückgang der Reallöhne rund 3,1 Prozent vom BIP – mehr als der Einkommensverlust von zwei Prozent, was einen Gewinnanstieg ermöglichen würde und mehr als ausreicht, um die bisher erlittenen Verluste beim Austauschverhältnis auszugleichen.

Lohnforderungen steigen

Ganz anders ist die Lage in den USA. Als weltgrößter Öl- und Erdgasproduzent exportieren die USA genauso viel Energie, wie sie importieren. Amerikas Austauschverhältnis hat daher überhaupt nicht gelitten, weil Import- und Exportpreise um denselben Betrag angestiegen sind. Die Löhne jedoch sind laut dem Lohnindikator der Federal Reserve Bank of Atlanta um mehr als sechs Prozent gestiegen, was bedeutet, dass die USA viel näher an einer Lohn-Preis-Spirale dran sind als Europa.

Wie verlässlich ist Europas Lohnmäßigung? Derzeit erlebt die EU trotz des Gesamteinkommensverlustes mehr Inflation bei den Gewinnen als bei den Löhnen. Und sinkende Löhne sind angesichts steigender Gewinne besonders schwer zu akzeptieren. Tatsächlich steigen die Lohnforderungen überall in der Eurozone bereits. Die einflussreiche IG Metall in Deutschland etwa fordert derzeit eine achtprozentige Lohnerhöhung für Arbeitnehmer in der Metallindustrie, die derzeit hohe Gewinne macht. Um den sozialen Frieden zu wahren, haben mehrere Länder, darunter auch Deutschland, zweistellige Erhöhungen des Mindestlohns verabschiedet.

"Es ist kaum zu erwarten, dass die Löhne in absehbarer Zeit mit der Inflation gleichziehen werden."

Trotzdem sind die ausgehandelten Tarifabschlüsse bisher moderat geblieben und belaufen sich laut EZB auf rund vier Prozent. Die tatsächlichen Löhne könnten weiter steigen, wenn Arbeitgeber in Sektoren, die einen Arbeitskräftemangel erleben, zu dem Schluss kommen, dass es sich lohnt, ihren Beschäftigen einen Aufschlag zu zahlen. Trotzdem ist kaum zu erwarten, dass die Löhne in absehbarer Zeit mit der Inflation gleichziehen werden.

Der Hauptgrund hierfür ist, dass die Regierungen überall in Europa die privaten Haushalte durch direkte Transferleistungen unterstützen, um die höheren Energiekosten auszugleichen. Die deutsche Bundesregierung etwa hat ein Entlastungspaket verabschiedet, das unter anderem Pauschbeträge an Arbeitnehmer und einen Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger vorsieht.

Falscher Ansatz

Die spanische Regierung ihrerseits subventioniert die Erdgaskosten der Stromproduzenten. Dieser Ansatz zur Senkung der Strompreise ist falsch, weil er in einer Zeit, in der der russische Präsident Wladimir Putin mit einer Einstellung der Gaslieferungen droht, zum Gasverbrauch ermutigt. Doch spiegeln derartige Programme einen neuen Gesellschaftsvertrag wider, der sich derzeit in Europa herausbildet: Die Regierungen schützen die Arbeitnehmer im Austausch dafür, dass diese ihre Lohnforderungen mäßigen, vor dem Großteil der erhöhten Energiekosten.

Im Gefolge der globalen Finanzkrise von 2008 lautete die häufige Kritik am Konstrukt der Eurozone, dass es ihm an einer gemeinsamen Finanzbehörde fehle und die EZB daher "das einzige Spiel in der Stadt" sei. Diesmal scheint das anders zu sein. Durch ihr Eingreifen zur Entlastung der Einkommensbezieher tragen die Regierungen dazu bei, eine Lohn-Preis-Spirale im Stile der 70er-Jahre zu verhindern – und erleichtern so der EZB die Arbeit gewaltig. (Daniel Gros, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 24.7.2022)