Im Gastkommentar wundert sich Pinelopi Koujianou Goldberg, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Yale, dass die Regierung Biden keine angebotsseitigen Strategien zur Inflationsbekämpfung entwickelt haben.

In einem angespannten Arbeitsmarkt ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr Menschen eine Arbeit ablehnen, die sie als unangenehm empfinden.
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Da die Inflation in den Vereinigten Staaten neue Höchststände erreicht, diskutieren Ökonominnen und Ökonomen darüber, wie hoch die Federal Reserve die Zinsen anheben muss, um die Nachfrage zu drosseln und das Preiswachstum einzudämmen. Einige Kommentatoren sind der Meinung, dass die Fed so aggressiv vorgehen sollte wie einst der Fed-Vorsitzende Paul Volcker: Dieser hatte in den frühen 1980er-Jahren die Zinssätze schließlich auf 20 Prozent angehoben.

Solche Zahlen lassen verständlicherweise befürchten, dass die Bemühungen zur Eindämmung der Inflation zu einer Rezession und einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit führen werden. Wie ein kürzlich veröffentlichtes Kurzdossier des Peterson Institute for International Economics feststellt, geht der Rückgang der offenen Stellen, der durch kontraktive Maßnahmen herbeigeführt wird, empirisch mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit einher.

Schlimmer noch: Zinserhöhungen würden zwar die Arbeitslosigkeit im Laufe der Zeit wahrscheinlich erhöhen, aber sie werden nicht ausreichen, um die Inflation kurzfristig einzudämmen. Der jüngste Preisanstieg mag durch die außerordentlich hohe Nachfrage nach der Pandemie ausgelöst worden sein, aber auch angebotsseitige Faktoren – insbesondere der Arbeitskräftemangel und die durch den russischen Krieg in der Ukraine verursachte Energiekrise – haben eine wichtige Rolle gespielt. Die Inflation kann nur eingedämmt werden, wenn auch diese Faktoren angegangen werden.

Konflikt deeskalieren

Die Situation erfordert drei zusätzliche Initiativen. Erstens: Der Konflikt in der Ukraine muss deeskaliert werden. Auch wenn der Krieg die Inflation nicht "verursacht" hat, so hat er doch mit Sicherheit zu steigenden Preisen beigetragen – vor allem im Lebensmittel- und Energiesektor –, indem er die Knappheit verschärft hat, von der man zuvor erwartet hatte, dass sie mit der Aufhebung der Covid-19-Beschränkungen zurückgeht.

Solange der Krieg andauert, werden die Energie- und Lebensmittelpreise hoch bleiben, und die Unsicherheit wird die Märkte weiter erschüttern. Die Handelsströme könnten neu ausgerichtet werden, um Energieimporte aus "unfreundlichen" Ländern auslaufen zu lassen; aber solche Neuausrichtungen können nicht schnell genug erfolgen, um die derzeitige Lebensmittel- und Energieknappheit zu lindern. Zwar könnte die Diplomatie den Konflikt noch deeskalieren, doch mit jeder Woche, die verstreicht, wird es schwieriger, eine gesichtswahrende Lösung zu finden.

Covid überwinden

Zweitens: Die USA müssen Covid-19 überwinden, um dem Arbeitskräftemangel in bestimmten Sektoren zu begegnen. Impfstoffe sind weithin verfügbar und verhindern nachweislich in den meisten Fällen schwere Erkrankungen. Es ist an der Zeit, die Vorschriften aufzugeben, nach denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehrere Tage Urlaub nehmen müssen, wenn sie positiv getestet werden, selbst wenn sie keine Symptome haben. Eine solche Politik hat in Schlüsselsektoren zu schwerwiegenden Engpässen geführt, wobei die Luftfahrtindustrie ein prominentes Beispiel ist.

Erwerbsquote heben

Drittens: Die USA brauchen dringend politische Maßnahmen, um die Erwerbsquote wieder auf das Niveau vor der Covid-Pandemie zu bringen. Viele Kommentatoren haben Parallelen zwischen dem derzeitigen wirtschaftlichen Umfeld und der Stagflation der 1970er-Jahre gezogen. Eine Besonderheit unserer Zeit ist jedoch die "Große Resignation". Die Pandemie hat die US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner müde gemacht und demoralisiert, und sie sind nicht bereit, eine Arbeit anzunehmen, die nicht einem höheren Standard der Arbeitszufriedenheit entspricht.

Gute Arbeitsplätze

Die Menschen verlangen zunehmend nach "guten Arbeitsplätzen" mit angemessener Bezahlung, Sozialleistungen und Sicherheit. Aber das sind nicht die Arbeitsplätze, die viele Unternehmen anbieten. Viele wichtige Tätigkeiten sind weder besonders lukrativ noch befriedigend – sei es das Be- und Entladen von Lastwagen oder Containerschiffen, das Abwaschen von Geschirr und das Abräumen von Tischen in Restaurants oder die Arbeit auf dem Bau oder in der Schwerindustrie. Darüber hinaus können selbst gut bezahlte Finanz- und Technologiejobs in New York und San Francisco hinter den Erwartungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zurückbleiben, wenn sie lange tägliche Pendelwege erfordern.

In einem angespannten Arbeitsmarkt ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr Menschen in den USA eine Arbeit ablehnen, die sie als unangenehm empfinden. Aber irgendjemand muss es ja tun, und für jeden, der beruflich aufsteigt oder aus dem Erwerbsleben ausscheidet, gibt es mehrere Eingewanderte, die die wegfallende Arbeit gerne übernehmen würden. Diese Einwandererinnen und Einwanderer nehmen den US-Amerikanerinnen und US-Amerikanern per definitionem keine Arbeit weg, sondern sind ein Nettonutzen für die Wirtschaft. Das Gleiche gilt für den internationalen Handel, der Engpässe in Produktion und Versorgungsketten ausgleichen kann, indem er effektiv Arbeitskräfte ohne Einwanderung "importiert".

"Protektionismus schadet letztlich genau den Menschen, denen er eigentlich helfen sollte."

Leider hat die Regierung von US-Präsident Joe Biden einen Großteil der protektionistischen Rhetorik ihres Vorgängers beibehalten. Sie versprach den US-amerikanischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gut bezahlte, sichere Arbeitsplätze, hat aber wenig getan, um die Einwanderung zu erhöhen oder mehr ausländische Konkurrenz zuzulassen, und damit zum heutigen Arbeitskräftemangel beigetragen. Wir wurden wieder einmal daran erinnert, dass Protektionismus letztlich genau den Menschen schadet, denen er eigentlich helfen sollte – insbesondere in Zeiten von Engpässen auf der Angebotsseite.

"Inflation verschlechtert die Situation des Durchschnittsarbeiters."

Diese kühle wirtschaftliche Logik mag im Widerspruch zu den progressiven Idealen und dem Engagement der Regierung von Joe Biden für die Stärkung der US-amerikanischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stehen. Aber wir müssen uns daran erinnern, was hier auf dem Spiel steht. Eine hohe Inflation untergräbt die gesamte progressive Agenda. Sie verschlechtert die Situation des Durchschnittsarbeiters, und wenn sie sich in den Lebensmittel- und Benzinpreisen niederschlägt, ist sie äußerst regressiv. Da ärmere Haushalte einen größeren Teil ihres begrenzten Einkommens für Grundbedürfnisse ausgeben müssen, fallen sie noch weiter hinter die Wohlhabenden zurück.

In einer Zeit rapide steigender Zinssätze werden höhere Schuldendienstkosten unweigerlich zu Kürzungen der Haushaltsausgaben führen, auch bei dringend benötigten Infrastrukturinvestitionen. Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Förderung eines umweltfreundlichen Wachstums werden bereits aufgegeben, da sich die Politik darauf konzentriert, den kurzfristigen Schmerz der Menschen zu lindern – etwa durch performative Gesten wie eine Benzinsteuerbefreiung. Die Regierung Biden und die Demokraten im Kongress sind zu Recht besorgt über die diesjährigen Zwischenwahlen – umso überraschender ist es, dass sie keine angebotsseitigen Strategien zur Inflationsbekämpfung entwickelt haben. (Pinelopi Koujianou Goldberg, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 24.7.2022)