Viktor Orbán ist nicht unbedingt der größte Fan der EU.

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Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat am Samstag im historischen Siebenbürgen, das heute zu Rumänien gehört, seine Zukunftsvision für das Jahr 2030 skizziert. "Bis dahin wird der Westen entscheidend geschwächt sein, die USA werden eine echte Krise erleben, die Eurozone wird enorme Probleme haben", erklärte er vor Tausenden Anhängern im Kurort Băile Tușnad (ungarisch: Tusnádfürdö), der im kompakten Siedlungsgebiet der ethnischen Ungarn liegt.

Der Rechtspopulist, der seit 2010 in Ungarn regiert, war sichtlich bemüht, seiner Anhängerschaft angesichts von Ukraine-Krieg, drohender Energiekrise und Rezession Mut einzuflößen. Zuletzt musste seine Regierung die Politik der seit 2012 eingefrorenen Gas- und Strompreise teilweise aufgeben. Die begünstigten Preise für Privathaushalte gelten künftig nur mehr noch für einen von Amts wegen festgesetzten Durchschnittsverbrauch. Wer mehr verbraucht, bezahlt für den Mehrkonsum den doppelten (Strom) beziehungsweise siebenfachen Preis (Gas).

Die Wohnnebenkosten-Bremse ist ein wiederkehrendes Thema von Orbáns Wahlkämpfen. Das Versprechen auf billigen Strom und Gas spielte auch vor der letzten Parlamentswahl im April eine prominente Rolle, obwohl bereits der russische Krieg gegen die Ukraine getobt hatte. Am Samstag beruhigte Orbán die Menge damit, dass der "Durchschnittsverbrauch" unverändert billig bleibe. "Wir schützen die Wohnnebenkosten-Bremse", beteuerte er.

"Westliche Zivilisation im Niedergang"

Den Rest der Rede nutzte er für einen Rundumschlag gegen das, was er eine "westliche Zivilisation im Niedergang" nannte. "Ihre Kraft, ihre Leistung, ihr Ansehen und ihre Handlungsfähigkeit sind im Schwinden begriffen", behauptete er. Durch Migration und "Gender-Wahnsinn" habe der klassische Westen seine christlich-nationalen Wurzeln verloren. Vielmehr seien es nun in Mittel- und Osteuropa lebende Völker wie die Ungarn und die Polen, die für diese Werte stehen. "Ich würde deshalb Mittelosteuropa den Westen nennen, das, was Westen genannt wird, ist nur mehr noch Post-Westen."

Zur Lektüre empfahl Orbán den auch auf ungarisch erschienenen dystopischen Roman "Das Heerlager der Heiligen" des Franzosen Jean Raspail aus dem Jahr 1973. Wegen seines rechtsextremen, xenophoben Gehalts erschien das Machwerk in vollständiger deutscher Übersetzung lediglich im Antaios-Verlag des AfD-Vordenkers Götz Kubitschek. Orbán selbst erging sich in bemerkenswerten rassentheoretischen Spekulationen. Im Westen würde sich durch die Zuwanderung von Menschen außerhalb Europas, gefördert von "Brüssel" und dem "Soros-Heer", Europäer mit Nicht-Europäern vermischen. In Mitteleuropa würden sich nur europäische Völker miteinander vermischen, deshalb "sind wir keine Gemischtrassigen".

Viele Konflikte mit der EU

Als Problem bezeichnete Orbán, dass Brüssel "uns vorschreiben will, wie wir leben sollen". Tatsächlich riefen die anhaltende Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die von der Regierung instrumentalisierte Korruption zahlreiche Konflikte mit der EU auf den Plan. Unter anderem gelangten die für das Land vorgesehenen Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds wegen des Verdachts ihrer missbräuchlichen Verwendung bislang nicht zur Auszahlung.

Doch bis 2030 werde alles anders, beschwichtigte Orbán. Dank einer "Ausnahmestrategie" werde sich das Land der globalen Wirtschaftskrise entziehen. Regierungen im Westen werden reihenweise fallen, die Mittelosteuropäer erstarken. "2030 werden wir Nettozahler in der EU sein, und wer bezahlt, bestimmt die Musik."

Orbán tritt jeden Sommer – lediglich die zwei letzten Jahre bildeten pandemiebedingt eine Ausnahme – in Băile Tușnad auf. Seine Kampfrede bildet jeweils den Höhepunkt der Sommerakademie seiner Fidesz-Partei, die seit mehr als drei Jahrzehnten hier stattfindet. Seitdem Orbán in Ungarn an der Macht ist, gestaltet sich die Sommerakademie zur Heerschau des Fidesz-Hofstaats. Minister, Staatssekretäre, Abgeordnete, Intellektuelle und andere Wasserträger des Systems Orbán geben sich hier ein Stelldichein.

Seltene Gelegenheit

Zugleich hat das ganze einen lockeren Charakter, zumal Rock- und Pop-Konzerte am Abend auch die unpolitische Jugend der Region anlocken. Tagsüber präsentieren sich in zahlreichen Zelten die Repräsentanten der Fidesz-Macht. Reporter der unabhängigen ungarischen Medien können in dem ungezwungenen Umfeld den einen oder anderen Minister oder Ministerin vors Mikrofon bekommen, was in Budapest inzwischen ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Die Diskussionen in den Zelten dienen zumeist der Nabelschau und Selbstvergewisserung des Fidesz-Lagers. Oppositionelle werden, so sie bereit sind zu kommen, sehr sparsam eingeladen. Die spannendste Debatte fand wahrscheinlich am Freitag statt, als Balázs Orbán, der politische Direktor des Ministerpräsidentenamts (nicht mit seinem Chef verwandt), mit dem linksgerichteten und kritischen Internet-Fernsehmacher Márton Gulyás auf dem Podium saß.

Der Gründer und Chefmoderator des Internet-TV-Kanals "Partizán" konfrontierte den Regierungsmann mit den Problemen, die dem Orbán-Regime aus der teilweisen Aufkündigung der Wohnnebenkosten-Bremse und der Abschaffung der begünstigten Pauschalsbesteuerung für Freiberufler erwachsen werden. "Vor der Wahl habt ihr etwas ganz anderes versprochen", warf er ein.

Gefährliche Entzauberung

Balázs Orbán konterte mit rhertorischen Relativierungen sowie mit Zahlen, die belegen sollten, dass die Durchschnittsfamilien nichts zu befürchten hätten. "Die Entzauberung kann für euch gefährlich werden, aber das habt ihr euch selbst zuzuschreiben", meinte Gulyás. Im System Orbán sind politische Opposition und unabhängige Medien marginalisiert. "Derzeit gibt es niemanden, der die Unzufriedenenheit mit der Regierung zu artikulieren vermag." (Gregor Mayer aus Băile Tușnad, 23.7.2022)