Vandekeybus baut seine actionreichen Arbeiten immer wieder aus mythologischen Stoffen und der Archaik menschlichen Verhaltens.
Foto: Danny Willems

Mit Wucht bricht in unserer gefährlichen Gegenwart das Alte aus den Oberflächen der modernen Welt. Am auffälligsten zeigt sich diese Eruption in den neuen politischen Wirklichkeiten. Diese bewegen sich zwischen religiösen Fundamentalismen in Ost wie West, Russlands nationalkultischen Rückwendungen und Chinas futuristisch maskierter Technokratie.

Im Tanz wird dieses Phänomen seit Jahren registriert. Etwa von dem belgischen Starchoreografen Wim Vandekeybus (59), der seine actionreichen Arbeiten immer wieder aus mythologischen Stoffen und der Archaik menschlichen Verhaltens baut. Jetzt durchstreift er mit seiner Kompanie Ultima Vez die Urgründe kultureller Frühgeschichte: In dem aktuellen Stück Hands do not touch your precious Me – derzeit zu sehen bei Impulstanz im Wiener Volkstheater – geht es ab in die wenig gastliche sumerische Unterwelt.

Wir schreiben das 23. Jahrhundert vor und zugleich das 21. Jahrhundert nach Christus. Vor rund 4400 Jahren beschrieb die Hohepriesterin Enheduanna in der antiken Stadt Ur, wie die Göttin Inanna von Uruk ihre düstere Schwester Ereshkigal in deren Totenreich Kurnugia besucht. Heute transferiert Vandekeybus diesen Mythos auf die Bühne und verbindet ihn mit dem mächtigsten modernen Götzen: der Kamera.

Vandekeybus verbindet den Mythos mit dem mächtigsten modernen Götzen: der Kamera.
Foto: Danny Willems

Performance in der Hölle

Bei Hands do not touch your precious Me, das in Zusammenarbeit mit der Musikerin Charo Calvo und dem bildenden Künstler Olivier de Sagazan entstand, verkörpert der Choreograf selbst den sumerischen Weisheitsgott Enki, der im Mythos von Inanna unter den Tisch gesoffen wurde. Dabei entlockte Inanna ihm seine Weisheitstafeln mit göttlichen Dekreten ("Me"), bevor sie nach Kurnugia hinabstieg.

Klugerweise erzählt Vandekeybus die Enheduannas-Geschichte nicht einfach nach, sondern führt sein Publikum direkt in Ereshkigals Hölle, lässt Innanna dort im weißen Kleidchen tanzen (Lieve Meussen) und ihre Schwester (de Sagazan) treffen. Enki selbst beobachtet das. Er nähert sich Ereshkigal und wird von dieser ins Geschehen hineingezogen.

ImPulsTanz

Wer sich vor Besuch der Performance nicht über diese Hintergründe informiert hat, nimmt den direkten, intuitiven Zugang ins Geschehen. Und sieht die Höllenfürstin, wie sie sich mit Lehm einschmiert, eine Puppe aus Werg oder Flachs formt und von einer Menschengestalt zum Monster mit Lehmmaske und Wergfrisur wird. Vier Dämonen mit Kerzen auf den Köpfen tanzen an, eine davon setzt die Frisur des Ungeheuers in Brand.

Kampf ums Überleben

Die Tänzerinnen und Tänzer – sie personifizieren die erwähnten "Me" – geraten in dessen Fänge. Alle haben vorübergehend ihre Masken zu tragen und werden zu anderen oder mit anderen verbunden. In wildem Tanz, begleitet von Enkis live projizierten Videobildern, folgt ein dramatischer Kampf ums Überleben, um Freiheit und Identität, der nie gewonnen werden kann, auch nicht, als Ereshkigal am Ende mit offener Bauchhöhle wie tot daliegt.

Das archaische Ringen in Hands do not touch your precious Me erinnert daran, dass erst im Vorjahr bei Impulstanz der britische Choreograf Akram Khan ein großes Stück gezeigt hat, in dem er sich ebenfalls auf die sumerische Mythologie bezieht: "Outwitting the Devil" ist die Bearbeitung einer Geschichte aus dem Gilgamesch-Epos. Hier geht es unter anderem um die Vernichtung eines Waldes, womit Khan direkt auf ein aktuelles Thema zielt. Wim Vandekeybus hingegen nimmt allgemein die archaischen Tiefen der menschlichen Psyche ins Visier der modernen "Göttin" Kamera.

Wilder Tanz: Masken, Lehmgesichter und Wergfrisuren.
Foto: Danny Willems

Bezüge zu Sigmund Freud

So geraten Sigmund Freuds "alte und dreckige Götter" in den Fokus, die den Wiener Erfinder der Psychoanalyse sein Leben lang begleiteten. In deren Schatten besucht Vandekeybus das in Mythen verschlüsselt überlieferte kulturelle Unbewusste – unser aller Kurnugia. Bei Enheduanna, der ersten bekannten Autorin der Geschichte, und im Gilgamesch-Epos fließen Leben und Tod, Fruchtbarkeit und Zerstörung zusammen. Und auch Freud setzte neben den Eros einen Todestrieb.

Bei Impulstanz gibt es übrigens ab kommenden Mittwoch (27. und 29. Juli) eine spezielle Uraufführung zu sehen. In Scattered Memories resümiert Vandekeybus mit seiner Kompanie Ultima Vez – ebenfalls im Volkstheater – deren 35-jährige Erfolgsgeschichte. (Helmut Ploebst, 24.7.2022)