Gleis 7, 14.46 Uhr am Bahnhof Kaliningrad-Süd: Der Transitzug aus Moskau fährt ein. 19 Stunden hat die Reise in die russische Exklave gedauert, sie führte durch Belarus und das EU- und Nato-Land Litauen. Müde und verschwitzt steigen die Reisenden aus – viele wollen ihren Urlaub hier an den Ostseestränden verbringen.

Ankunft am Bahnhof von Kaliningrad.
Foto: Jo Angerer

Vom politischen Streit um den Bahntransit durch Litauen habe sie nichts gemerkt, erzählt die Zugbegleiterin. Er betraf ja auch, bis zu diesem Wochenende, nur den Güterverkehr. "Passagierzüge wie unserer fahren wie üblich." Probleme mit den litauischen Zollbeamten? "Gab es nicht. Sie waren freundlich, höflich. Alles lief reibungslos."

Inmitten all der Koffer steht Irina, sie ist kaputt, zündet sich erst einmal eine Zigarette an. Alles wie immer, sagt auch sie. Und ja: Beim Zwischenhalt in Litauen habe sie antirussische Plakate gesehen. "Viele Demonstranten waren aber nicht da." Über diese Plakate, die Anfeindungen der russischen Transit-Reisenden bei der Fahrt durch Litauen, über den Hass auf die Russen wird viel geschrieben in diesen Tagen. Irina, die Urlauberin, interessiert das nicht. Schnell geht sie weiter.

Auch Anna, ihre Mitreisende, hat diese Plakate gesehen und mit dem Handy ein Foto gemacht. "Russland begeht in der Ukraine einen Völkermord. Das passiert, weil du es nicht glaubst!", steht da. Anna ist gebürtige Ukrainerin, sie lebt schon seit langem in Russland, ist hier verheiratet, hat Kinder. Vor acht Jahren war sie zum letzten Mal in der Heimat. Über Politik will sie nicht reden, sie will in Kaliningrad bloß Urlaub machen. Die Fahrt war normal, sagt sie, man brauche ein Transitvisum. "Das Visum bekommt man beim Kauf des Zugtickets. Es wird zweimal überprüft, bei der Ein- und Ausreise aus der Eurozone."

Die Nato ist ganz nah

Kaliningrad ist eine Exklave ohne Landverbindung zu Russland, fast so groß wie die Steiermark, 940.000 Menschen leben hier. Die Nato ist nur ein paar Kilometer entfernt, trotzdem herrschen Ruhe und Gelassenheit. Die Kämpfe in der Ukraine scheinen weit weg zu sein. Tausende Reisende sind in der Region, Hochsaison. Viele Russinnen und Russen machen heuer Urlaub im eigenen Land. Flüge ins Ausland, etwa in die Türkei, sind teuer geworden. Und auch in Russland gibt es schöne Strände. Etwa in Sotschi am Schwarzen Meer – oder hier in Kaliningrad, im rauen Ostseeklima.

Von der politisch so hochbrisanten "Blockade" Kaliningrads habe er zunächst gar nichts mitbekommen, erzählt ein Armenier, der seit 15 Jahren hier lebt, geheiratet und eine Familie gegründet hat. Freunde und Verwandte aus Armenien und Moskau hätten ihm erzählt, wie schlimm es in Kaliningrad sei. "Meine Schwiegermutter will nicht kommen und ihre Enkelkinder sehen. Sie sagt, wir könnten verhungern." Das sei natürlich Blödsinn. "Baustoffe und Benzin sind teurer geworden. Alle anderen Preise sind in etwa gleich geblieben. Es gibt keinen Mangel. In den Läden gibt es alles. Meine Schwiegermutter sorgt sich umsonst", lacht er.

In der Tat: Die Regale sind voll. Gemüse, Obst, Fleisch, Getränke – alles da. Die Preise für Lebensmittel sind ähnlich wie die in Moskau. Viele Lebensmittel werden in Kaliningrad selbst produziert, andere stammen aus Sankt Petersburg. Von Mangel, Hunger gar, keine Spur.

Die Kurische Nehrung: Traumdestination vieler russischer Reisender in diesem Sommer.
Foto: Jo Angerer

Natur pur

Schauplatzwechsel auf die Kurische Nehrung, eine fast 100 Kilometer lange Landzunge an der Ostsee, die je zur Hälfte zu Russland und Litauen gehört. Die Dünenlandschaft, der Kontrast zwischen dem wilden Meer, den Tannenwäldern und den bis zu 60 Meter hohen Sandhügeln, macht dieses Weltkulturerbe der Unesco zum Touristenmagnet. Sowohl der russische als auch der litauische Teil der Kurischen Nehrung stehen unter Naturschutz. Unterwegs sind viele Touristenbusse zu sehen, hauptsächlich Urlauber aus Russland. Aber auch ein Auto mit deutschem Kennzeichen steht auf dem Parkplatz.

Mit Oleg, einem Fremdenführer, kommt man schnell ins Gespräch – auch über die Spannungen zwischen Kaliningrad und Litauen und über die russische "Spezialoperation" in der Ukraine. "In Russland erkennen die Menschen nicht, was in der Ukraine wirklich passiert", erzählt Oleg. "Dort lebt eine Tante von mir, die mir manchmal Videos schickt, wenn Bombenangriffe stattfinden. Auf dem Video kann man sehen, dass alles real ist, alles zittert. Wenn ich es meinen russischen Freunden zeige, glauben viele es nicht."

Einige seiner ukrainischen Freunde hätten den Kontakt zu ihm abgebrochen. "Wegen meiner Staatsangehörigkeit", sagt Oleg. Andere nicht. "Weil sie verstehen, dass nicht alle Menschen in Russland für Putin sind."

Mangelnde Information

Man müsse eben Zugang zu vielen Informationsquellen haben. "Erst dann kann ein richtiges Verständnis der Wirklichkeit entstehen." Und an wirklichen Informationen mangle es auf beiden Seiten, meint Oleg.

"Sapere aude": Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Das schrieb dereinst Immanuel Kant (1724–1804), der große Philosoph, der hier in Kaliningrad, dem damaligen deutschen Königsberg, gelebt hat und hier auch begraben ist. Schwierig in Zeiten, in denen es vielfach um Propaganda und Gegenpropaganda geht.

Der Transitstreit zwischen Russland und Litauen beispielsweise: Litauen hatte Mitte Juni den Bahntransit einiger Waren, darunter Metalle und Baumaterialien, verboten. Sie stünden auf den Sanktionslisten. Russland kritisierte die Beschränkungen als "illegal" und drohte Gegenmaßnahmen an. Das Vorgehen Litauens verstoße gegen ein Abkommen zwischen Russland und der EU aus dem Jahr 2002.

Touristen und Atomraketen

Der inzwischen beigelegte Streit zwischen der EU und Russland drohte zu eskalieren. Nicht nur politisch war er hochbrisant: Die Exklave Kaliningrad hat für Moskau eine große militärische Bedeutung. Die Ostseeflotte ist hier beheimatet, atomwaffenfähige Iskander-Raketen sind hier stationiert. Große Teile der Region dürfen die Touristen nicht betreten: militärisches Sperrgebiet.

Von Mangel keine Spur: Alle Geschäfte sind offen, auch jene mit westlichen Markenprodukten.
Foto: Jo Angerer

Auswirkungen hätte das Transitverbot vor allem für die Bauwirtschaft gehabt, erzählt Oleg. Denn zumindest vor der "Spezialoperation" boomte das Immobiliengeschäft. Nach der Fußball-WM 2018 – Kaliningrad war für vier Begegnungen in der Gruppenphase Spielstätte – entdeckten viele betuchte Russen Kaliningrad, wollten sich ansiedeln. "Es kamen die reichen Leute aus Sankt Petersburg und Moskau, die sich das leisten konnten. Die Preise sind explodiert", weiß Oleg. Der Immobilienmarkt ist in den letzten Jahren regelrecht explodiert. In einigen Immobiliensparten stiegen 2021 die Preise um 50 Prozent, im ersten Quartal 2022 wurden Häuser und Wohnungen nochmals um 20 Prozent teurer.

Gebaut wird nach wie vor viel, doch der Markt ist seit Beginn der "Spezialoperation" eingebrochen. Viele potenzielle Käufer haben Angst vor einem Krieg, vor einem Einmarsch der Nato. Laut Kaliningrader Statistikamt ist die Zahl der Bauvorhaben im ersten Quartal 2022 um 23 Prozent zurückgegangen.

Waleri Makarow, Gründer der Unternehmensgruppe Kaliningrad Strojinvest, erwartet laut der deutschsprachigen Zeitung "Königsberger Express" für die zweite Jahreshälfte eine Rezession: "Investoren ziehen sich aus dem Baugewerbe zurück." Und Oleg Perewalow, der Vizepräsident des Kaliningrader Immobilienhändlerverbands, ergänzt: "2022 hätte zum Rekordjahr werden können – so viele Bauvorhaben hatte man hier bereits in Angriff genommen. Man musste sie aber gleich in der Anfangsphase auf Eis legen. Nur das, was schon fast fertig war, wird weitergebaut."

Güterverkehr rollt wieder, auch Westgeschäfte sind offen

Nun hat Litauen das Transportverbot für Güter, die den Sanktionen unterliegen, aufgehoben. Die ersten Waren, die Kaliningrad per Güterzug aus Russland wieder erreichen können, werden Baumaterialien sein. Schon bald sollen 60 Waggons, beladen mit Zement, durch Litauen rollen, berichtet die russische Nachrichtenagentur Tass. Zement, den die Bauwirtschaft in Kaliningrad dringend benötigt.

Wieder zurück in der gleichnamigen Hauptstadt der Oblast Kaliningrad. Nach dem Streifzug durch die Natur jetzt einer durch die Shoppingmalls. Und siehe da: Die Filialen vieler westlicher Modeketten, in Moskau längst geschlossen, sind geöffnet. Der Grund: Hier werden die Läden von russischen Franchisenehmern der Markenhäuser betrieben, und die machen weiter. "Der Großteil der Waren wurde schon vor Beginn des Konflikts importiert; und jetzt, wo sich Wege für Lieferungen aufgebaut haben, erhalten wir auch neue Waren zum Verkauf", erzählt die Verkäuferin im Jeansshop. "Leute aus dem großen Land (so wird Russland hier genannt) kommen für ein Wochenende zu uns, um einkaufen zu gehen."

Begegnung mit einem Homlin – einem kleinen Glücksbringer – in Kaliningrad.
Foto: Jo Angerer

Alltag in Kaliningrad, der russischen Exklave an der Ostsee: Die Künstlerin Natalia Shevchenko hat überall in der Stadt, an allen Sehenswürdigkeiten, kleine Metallfiguren aufgestellt, Homlins genannt. Inzwischen eine Touristenattraktion. Für die Kaliningrader sind die Figürchen Glücksbringer. Und Glück können sie gebrauchen in diesen Tagen. (Jo Angerer aus Kaliningrad, 25.7.2022)