Seit den frühen Morgenstunden kommen Menschen in Tunis in die Wahllokale. Wenn der Präsident nicht tut, was die Leuten wollen? "Dann vertreiben wir ihn halt", sagt eine Wählerin.

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"Ich habe noch mit meiner Frau gewettet, ob ich wohl der Erste sein werde", lacht ein Mann Mitte fünfzig in Shorts und Flip-Flops. Es ist kurz nach sechs Uhr morgens, gerade hat er seine Stimme abgegeben. Und er war tatsächlich der Erste in seinem Wahllokal. Jetzt gehe es sofort an den Strand, um der Hitze der Hauptstadt Tunis zu entfliehen. Sommerferien, langes Wochenende, Temperaturen an die 40 Grad Celsius: keine einfachen Bedingungen beim Verfassungsreferendum in Tunesien. Nach einer verhaltenen Kampagne ist auch die Beteiligung am Morgen entsprechend zögerlich. Vor allem ältere Menschen haben früh ihre Stimmen abgegeben.

Diejenigen, die so früh auf den Beinen sind, hoffen auf einen politischen Neuanfang, wirtschaftlichen Aufschwung, mehr Perspektiven für junge Leute – möglich gemacht durch die neue Verfassung.

Kritische Stimmen sind zumindest in den Wahllokalen kaum zu vernehmen. Angst vor einem neuen starken Mann an der Spitze habe sie nicht, erklärt eine andere Wählerin. Wenn Kais Saied sich nicht an die Spielregeln halten würde, "dann vertreiben wir ihn halt. Er wäre ja nicht der Erste", erklärt eine Wählerin selbstsicher. Doch sie vertraue ihm.

Präsident will weitreichende Befugnisse

Sollte eine Mehrheit für die neue Verfassung stimmen, würde dies die weitreichenden Befugnisse des Präsidenten rechtlich zementieren. Sie sieht nicht nur ein hyper-präsidiales System vor, sondern auch eines, in dem Parlament oder Bevölkerung de facto keine Möglichkeit haben, das Staatsoberhaupt für sein Handeln zur Verantwortung zu ziehen oder des Amtes zu entheben.

Mit der neuen Verfassung sichert sich Kais Saied weitgehende Rechte.
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Dennoch erhoffen sich die Unterstützer von Kais Saied von der Verfassung einen Neuanfang. Sie machen die muslimisch-konservative Ennahdha-Partei, die seit der Revolution 2011 an allen Regierungen beteiligt war, sowie das semiparlamentarische System für die politische Blockade, die grassierende Korruption und die anhaltende Wirtschaftskrise verantwortlich. Ein starker Präsident würde es ermöglichen, endlich aufzuräumen, argumentieren sie.

Mit einer neu eingeführten zweiten Parlamentskammer, die aus Vertretern lokaler und regionaler Versammlungen besteht, soll mehr Teilhabe der verschiedenen Landesteile garantiert werden – eine Grundidee, die Saied bereits im Wahlkampf 2019 vertreten hatte. Der parteilose ehemalige Jusdozent war damals im zweiten Wahlgang mit fast drei Vierteln der abgegebenen Stimmen gewählt worden.

Politkrise seit einem Jahr

Vor genau einem Jahr, am 25. Juli 2021, hatte er den Notstand ausgerufen. Die andauernde Blockade zwischen Präsident, Parlament und Regierung bedrohe das Land inmitten der bis dahin schlimmsten Corona-Welle unmittelbar. Saied entließ den Regierungschef und löste später das Parlament auf. Seit September regiert er per Dekret. Zunächst unterstützten weite Teile der Bevölkerung das rechtlich fragwürdige Manöver des Präsidenten.

Immer wieder kam es in den vergangenen Wochen in Tunis zu Protesten gegen das Referendum. Hier zum Beispiel Mitte Juni.
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Doch je mehr Macht er seitdem an sich riss, desto lauter wurden auch die kritischen Stimmen, die eine dauerhafte Rückkehr in autoritäre Strukturen fürchten, nur gut zehn Jahre nachdem die Bevölkerung Langzeitmachthaber Zine El Abidine Ben Ali im Jänner 2011 aus dem Land gejagt hatte.

Am Freitag und Samstag hatten in der Hauptstadt Tunis jeweils mehrere Hundert Menschen gegen das Referendum protestiert. Sie erklärten den ganzen Prozess seit der Machtübernahme des Präsidenten für illegal und riefen zum Boykott auf. Die Polizei ging teilweise gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Mehrere Menschen wurden verletzt oder zeitweise festgenommen.

Spätestens Donnerstagabend soll das vorläufige amtliche Endergebnis der Abstimmung vorliegen. Bei einem Ja für die neue Verfassung soll im Dezember das neue Parlament gewählt werden. (Sarah Mersch aus Tunis, 25.7.2022)