Pater noster. Schon die ersten Worte des Vaterunser machen klar: In der Wiener Minoritenkirche wird jetzt nicht mehr Klartext gesprochen – zumindest im Gebet und bei der Messfeier; sondern Latein. So wie das jahrhundertelang üblich war. So wie es ältere Katholiken noch im Ohr haben – aus der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Dieses hat im Auftrag von Papst Johannes XXIII. von Oktober 1962 bis Dezember 1965 in Rom eine Erneuerung der Kirche und eine Anpassung der Riten an das moderne Pastoralverständnis erarbeitet.

Qui es in caelis – der Du bist im Himmel. Das Zweite Vaticanum brachte nicht nur die Zelebration der Liturgiefeier in der Volkssprache, sondern auch die Errichtung eines Volksaltars: Der Priester feiert die Heilige Messe den Gläubigen zugewandt. "Den Tisch kann man wegschieben", erklärte Pater Jürgen Wegner von der Priesterbruderschaft St. Pius X. Diese Traditionalisten haben sich 1970 dem ultrakonservativen französischen Erzbischof Marcel Lefebvre (1905–1991) angeschlossen. Der hat eine Art Parallelstruktur zur katholischen Kirche aufgebaut und wurde – wegen nach römischem Kirchenrecht illegaler Bischofsweihen – 1988 von Papst Johannes Paul II. exkommuniziert. Seither ist das Verhältnis zur katholischen Kirche und vor allem zum Heiligen Vater angespannt. Zwar hat Papst Benedikt XVI. die Exkommunikation aufgehoben – die Annäherungsbestrebungen sind aber eingeschlafen.
Schädliche Moderne
Sanctificetur nomen tuum – geheiligt werde Dein Name. Dabei sind die Piusbrüder überzeugt, die wahre katholische Lehre aufrechtzuerhalten – und sie führen ja auch einen Papst im Namen: Der Heilige Pius X. (im Amt von 1903 bis 1914) war bestrebt, die Kirche vor schädlichen Einflüssen der Modernisierung zu bewahren – gleichzeitig wurde von ihm das Kirchenrecht neu gefasst, die Beschäftigung von Kastraten in Kirchenchören verboten und das Alter für die Erstkommunion auf sieben Jahre herunter gesetzt.

Adveniat regnum tuum – Dein Reich komme. In der Interpretation der wahren Lehre, des korrekten Ritus und der gelebten Glaubenspraxis geht es natürlich um Macht. Auch um irdische Macht und ihre Repräsentation. Lange hat sich die Piusbruderschaft bemüht, nicht nur in der Abgeschiedenheit ihres Distriktsitzes im Schloss Jaidhof bei Gföhl repräsentieren zu können, sondern auch in der Bundeshauptstadt: Die Minoritenkirche liegt im Zentrum der weltlichen Macht – zwischen Bundeskanzleramt, Innen-, Außen- und Bildungsministerium. Hier wird nun die Heilige Messe mit dem Rücken zum Volk gefeiert – gepredigt wird immerhin in deutscher Sprache. Und von hoch oben auf der 1784 geschaffenen Kanzel.
"Maria Schnee"
Fiat voluntas tua – Dein Wille geschehe. Der Minoritenplatz war seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts Heimstätte des Franziskanerordens, der Minoriten (ordo fratrum minorum conventualium), die Kirche wurde mehrfach umgebaut – 1784 übertrug sie Kaiser Joseph II. der damals rund 7000 Personen zählenden italienischen Bevölkerungsgruppe als deren Nationalkirche. Daher trägt sie auch den Namen "Maria Schnee": Am 5. August 358 soll auf dem Esquilin in Rom Schnee gefallen und liegen geblieben sein – auf diesem Flecken wurde dann die Kirche Santa Maria Maggiore errichtet, deren Altarbild wiederum als "Bild im Bild" heute das Altarbild der Minoritenkirche ziert. Der private Verein Italienische Kongregation Maria Schnee" hat die Kirche 2021 der Priestervereinigung geschenkt, die in den letzten Wochen nach und nach eingezogen ist. Die Erzdiözese Wien war in diesen Vorgang nicht eingebunden.

Sicut in caelo et in terra – wie im Himmel, so auf Erden. Viele italienische Gläubige sind ihrer Kirche auch unter der Piusbruderschaft treu geblieben – in der Sonntagsmesse erkennt man das unter anderem daran, dass etliche Frauen (wie in Italien üblich) ihre Haare mit Hut oder Schleier bedecken. Auffallend ist auch, dass die Kirche an Sonntagen gut gefüllt ist. Besser als andere – die würdevolle Art, die Heilige Messe nach dem alten Ritus zu zelebrieren, wirkt attraktiv.
Kniend kommunizieren
Panem nostrum cotidianum da nobis hodie – unser tägliches Brot gib uns heute. Dazu gehört nicht nur, dass die heiligen Handlungen – etwa die Wandlung – vom Zelebranten mit dem Rücken zum Volk gesetzt werden. Dazu gehört auch, dass die Kommunionsbank wieder in Funktion gesetzt wurde und der Leib Christi den dort knienden Gläubigen auf die Zunge gelegt wird.
Et dimitte nobis debita nostra – und vergib uns unsere Schuld. Die Piusbrüder sind aber weniger wegen ihrer traditionalistischen Art, die Messe zu feiern, oder ihres mangelnden Gehorsams gegenüber der römischen Kirche in die Kritik geraten, sondern weil sich einige ihrer Exponenten wiederholt antisemitisch geäußert haben – in schlechter Erinnerung ist der wegen Holocaust-Leugnung aus der Bruderschaft ausgeschlossene und vom Papst exkommunizierte Bischof Richard Williamson.
Sicut et nos dimittimus debitoribus nostris – wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. In Wien wollen die Piusbrüder vor allem "mit den Menschen über den Glauben sprechen, sie sollen katholische Priester erleben, nicht nur katholische Steine", sagt Pater Wegner.

Et ne nos inducas in tentationem – und führe uns nicht in Versuchung. Wegner beruft sich auf Lefebvre, indem er fordert: "Gebt dem Experiment eine Chance!"
Sed libera nos a malo – sondern erlöse uns von dem Bösen.
Amen. (Conrad Seidl, 25.7.2022)