Zar Nikolaus II. und seine Gemahlin Alexandra 1909 auf der Krim. Der letzte russische Zar und die Romanows werden heute in Moskau gern als "Dynastie echter Hochstapler deutscher Abstammung" gelesen.

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Die Frage, was in Wladimir Putins Kopf vorgeht, ist kein geeigneter Gegenstand vulgärer medizinischer Diagnostik. Aus der Ferne betrachtet, sieht jeder Potentat bald einmal krank aus. Doch es ist die quälende Ausweglosigkeit des in der Ukraine angezettelten Krieges, die Philosophinnen, Ideologiekritiker, aber auch Russophile und Anti-Putinisten auf den Plan ruft. Sie alle eint der Wunsch zu verstehen, welches verquaste Weltbild Russlands Präsidenten dazu veranlasst hat, sich in die Reihe der besonders verabscheuungswürdigen Aggressoren der Neuzeit einzureihen.

Getragen werden solche Motivforscher von der Zuversicht, die Absichten des Aggressors Putin irgendwann zwangsläufig "besser verstehen" zu können. Die Absichten, die den skrupellosen Kriegsherrn leiten, können nicht vom Himmel gefallen sein. Einer der bemerkenswertesten Aufsätze zur angewandten "Putinistik" stammt dieser Tage aus der Feder der ukrainischstämmigen Italienerin Elena Kostioukovitch. Abgedruckt findet man ihn in der aktuellen Ausgabe von Lettre International.

"Genetische Überlegenheit"

Unter dem Titel In Putins Hirn malt die Autorin, eine Juri-M.-Lotman-Schülerin, das erschütternde Panorama eines von unheilvollen Prophezeiungen erfüllten Denkraums. Wiederum werden die trüben Quellen offengelegt, aus denen sich Putins Sprache speist, das raunende Gerede vom "Russischen Universum" ("Russkij Mir"), von der "genetischen Überlegenheit" der Russen – letztere proklamierte Putin bereits im Dezember 2014 aus Anlass einer TV-Rede.

Ein ideales Russland soll nach den Vorstellungen des Präsidenten und seiner Anreger mit aller Gewalt zusammengekleistert werden. Die Utopie der "slawischen Urkultur" meint die Vereinigung all jener Gebiete, in denen ethnische Russen leben oder gelebt haben.

Getragen werden solche Absichten von unbehaglich deliranten Vorstellungen, denen die Wahnidee eines Geschichtskomplotts zugrunde liegt. Ein gewisser Professor Anatoli Fomenko vertritt die allerdings erstaunliche, im Kreml gern gehörte These, wonach die gesamte Menschheitsgeschichte von skrupellosen Westeuropäern im 16. Jahrhundert gefälscht worden sei. Der Plot wäre eines Umberto-Eco-Romans würdig: Alle Historie vor dem Jahr 1000 habe gar nie existiert. Was darüber berichtet worden ist, sei von verbrecherischen Kalligrafen "mit verdünnter Tinte" auf künstlich gealtertem Pergament verzeichnet worden. Ziel des Komplotts: die gezielte Demütigung des "großen russischen Volkes".

"Ungesunder Minderwertigkeitskomplex"

Das Alte Testament? Wurde in der Spätrenaissance verfasst. Die Bahn der alten Himmelskörper lege nahe, dass Jesus erst 1054 geboren wurde. Wichtiger noch im aktuellen Zusammenhang: Die Westler hätten den Russen das Herrschergeschlecht der Romanows untergejubelt, eine "Dynastie echter Hochstapler deutscher Abstammung". Die hätten nichts anderes im Sinn gehabt, als die ruhmreiche Geschichte Russlands zu torpedieren. Ziel sei es gewesen, den Russen einen ungesunden Minderwertigkeitskomplex einzuimpfen. Komplott beendet. Putin sei dem gedemütigten Land hingegen erschienen, um die Folgen der vermeintlichen Schmach zu tilgen.

Auch über die merkwürdige Aneignung von Nazi-Zeichen durch Putins Regime denkt Kostioukovitch ausführlich nach (das "Z", das "V"). Es scheint über all die Jahre zu einer schleichenden Identifikation mit den Nazi-Aggressoren von 1941 gekommen zu sein: Übernahmen von in Russland geläufigen Figuren aus der sowjetischen Populärkultur legen eine solche Annahme nahe.

Endlich aber bleibt es in Lettre International dem großen, in New York lehrenden Kulturphilosophen Boris Groys (75) vorbehalten, die Kennzeichen von Putins Schreckensherrschaft festzulegen (Groys emigrierte 1981 in den Wesen). In einem Podcast nach seiner Einschätzung befragt, bricht der Autor von Gesamtkunstwerk Stalin (2008) Putins Wahn auf dessen Prinzipien herunter. Es gehe dem Aggressor, so Groys, einzig und allein "um eine regionale Politik, um den Schutz einer spezifischen Region und ihrer angeblich national-kulturellen Identität".

"Krieg als Desinfektion"

Wladimir Putin sei das endgültige Dementi der Globalisierung, die wir vor kurzem als schicksalhaft angesehen haben. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine gleiche, seiner Absicht nach, daher einer Desinfektionsaktion mit finalem Charakter. Groys: "Es handelt sich um den Versuch, eine Grenze zwischen Russland und dem Westen zu ziehen, die niemals mehr überschritten werden kann." Es soll ein für alle Mal Schluss sein: mit dem Import westlicher Dekadenzgüter, mit der Übernahme von liberaler Demokratie und Rechtlichkeit. (Ronald Pohl, 26.7.2022)