Das Glück: Es endete links bei der Hausnummer 5. Und rechts bei der 10. Dahinter, ab der 7 und der 12, begann dann das Verhängnis. Die Katastrophe, die hat in Blessem, einem Stadtteil von Erftstadt in Nordrhein-Westfalen, alle erwischt – manche weniger, manche mehr, manche sehr. Aber nur in der Radmacherstraße, dort wo sie vor dem Kieswerk eine 90-Grad-Kurve zieht, da tat sich im Juli 2021 die Erde auf und riss drei Häuser in den Abgrund.

Der Friedhof von Marienthal-Dernau beim Lokalaugenschein vor einem Jahr ...
Cornelie Barthelme

Blessem in der Erft – nicht mehr an der Erft – war plötzlich die Ikone des Jahrhunderthochwassers vor einem Jahr. Inmitten eines heißen Sommers sorgte das Tiefdruckgebiet Bernd im Südwesten Deutschlands, aber auch in Teilen Belgiens, der Niederlande, Frankreichs, der Schweiz und Österreichs, für plötzliche enorme Niederschlagsmengen. Allein in Deutschland starben bei der für das Land seit 1962 schwersten Naturkatastrophe 186 Menschen.

Eine zweite Ikone wurde Schuld an der Ahr. Für die Nacht zum 15. Juli lag der Ort eher unter ihr. Dort, wo die Ahr eine Schleife zieht, als wolle sie das Dorf umarmen wie eine Mutter ihr Kind, schoss sie in der Flutnacht brüllend geradeaus. Und nahm mit, was ihr in die Quere geriet: Autos, Straßen, Häuser – nur ein altes Trafohäuschen hielt stand.

Stand hielten aber auch Menschen hier. Dass alle überlebt haben, sagt Helmut Lussi, das sei das Glück im Unglück. Lussi ist der Bürgermeister, ganz Deutschland kannte ihn, auch weil Kanzlerin Angela Merkel das Dorf besuchte. Damals wurde ihm ganz kurz die Stimme schwach. Jetzt aber ist sie fest.

Zähe Bürokratie

Wie es dem Dorf geht? "Zufrieden bin ich nicht. Ich hatte mir vorgestellt, dass es schneller geht. Und einfacher." Dabei weiß Lussi nach immerhin 13 Jahren im Amt, wie die deutsche Bürokratie funktioniert: wenn überhaupt, dann sehr zäh.

Maria-Luise Kristen aus Blessem wohnt keine 150 Meter vom Krater entfernt. Und bis zur Erft, die an allem schuld sein soll, ist es genauso weit. "Ein Bächlein", sagt Kristen. Tatsächlich: keine zwei Meter breit, keine zehn Zentimeter tief. Vor einem Jahr donnerte die Erft aber gegen Kristens Haus, mannshoch drückte sie sich durch das Erdgeschoß. Das weiß Kristen, auch an die Angst erinnert sie sich. "Aber sonst sind die ersten Tage komplett weg."

Das war der Schock. Erst jetzt, nach einem Jahr, beginnt für viele die Furcht. Er kenne etliche, erzählt Michael Mönks, "die fahren weg. Die wollen sich nicht erinnern." Mönks geht durch die Altstadt von Bad Münstereifel, auf seiner weißen Weste steht "Psychosoziale Hilfe". Das Freiwilligennetzwerk wird von der evangelischen Kirche finanziert. Noch. Und dann? Mönks berichtet von Konkurrenzgerangel zwischen Organisationen und Ehrenamtlern.

Kein Geld

Es geht ums Geld, fast in jedem Gespräch über die Flut und ihre Folgen. Fast alle klagen, dass die Anträge auf staatliche Hilfe hochkompliziert seien; dass die Anforderungen dauernd verändert würden; dass die Versicherungen kleinlich und misstrauisch seien. "Keinen Cent" habe sie gesehen bisher, sagt Maria-Luise Kristen (72). "Nichts", bestätigt ihre Nachbarin Helga Schaaf (75). Es gibt Tage, da wollen beide nicht mehr. Aber an den meisten anderen schon.

... und heute. An der Oberfläche ist (fast) alles normal.
Cornelie Barthelme

In Bad Münstereifel hat Martin Prusko vor wenigen Wochen sein Café wiedereröffnet, das Geschäft brummt. "So muss es auch sein", sagt Prusko. 2020 hatte er das alteingesessene Haus übernommen. "Zuerst zwei Corona-Lockdowns, dann die Flut": Das war sein Start. Wie er das stemmt, wenn die Versicherung von den 700.000 Euro Schaden bloß 300.000 bezahlt? Eine Spende von einem Stammgast, der ihm Gesammeltes bar auf den Tisch legte. Und kam Hilfe vom Land? Vom Bund? "Nichts", sagt Prusko. "Kein Cent."

Am zweiten Tag nach der Flut habe er ganz kurz überlegt, dann aber gedacht: "Mit 37 bin ich zu jung zum Aufgeben." Jetzt gehört Prusko zu den Schnellsten im Ort – und Bad Münstereifel zu den Schnellsten der Flutopfer. Jetzt wird mit Hochdruck, Macht und Tempo asphaltiert und gepflastert – ein schmaler Gang entlang der Erft vemittelt schon einen Hauch von Flaniermeile.

Keine Perspektive

Als im Weinort Marienthal die Ahr heranwütete, hing das Leben von Ludwig Kriechel an einem Gartenschlauch: Den hatte seine Frau Astrid an die Balkonbrüstung gebunden, und so brachte er sich in Sicherheit. Ein paar Tage später stand Kriechel vor seinem Haus, erzählte dem STANDARD von den Toten im Dorf und von den Überlebenden: "Hier war alles idyllisch – und jetzt ist alles am Arsch." Ein Jahr später ist Ludwig Kriechel tot, plötzlich verstorben. Seine Frau weiß nicht, ob sie hierbleiben will. Aber selbst wenn sie das Haus verkaufen wollte: Unsaniert sei es nichts wert.

Im Ahrtal ermittelt derweil die Staatsanwaltschaft gegen den damaligen Landrat Jürgen Pföhler wegen des Verdachts fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen. 135 Menschen sind allein hier durch die Flut gestorben. Der Landrat schweigt im Untersuchungsausschuss: Er muss und will sich nicht selbst belasten.

Stattdessen erzählt eine Nachbarin, dass der rote Porsche Pföhlers in der Flutnacht aus der Garage geholt worden sei. Eine andere kritisiert, er habe sich mehr um sein Auto gesorgt als um die Menschen. Erwiesen ist, dass Pföhler dem ehrenamtlichen Kreisfeuerwehrinspektor alle Hochwasserangelegenheiten übertrug und sich ab da um nichts mehr kümmerte. Nur ein paar seiner Nachbarn habe er gewarnt, als in Schuld schon die Häuser davonschwammen.

Marion Lehmann (mit Hündin Luna) lässt sich nicht unterkriegen. "Pünktlich zur Rente" will sie ihr Haus wiederaufgebaut und renoviert haben – trotz aller Sorgen und Ängste.
Cornelie Barthelme

Keine Antworten

Erwiesen ist auch, dass die Kiesgrube in Blessem ohne einen dafür erforderlichen Hochwasserschutz erweitert worden war und die zuständige Bezirksregierung dies bei Kontrollen nicht beanstandete. Schon vor einem Jahr hatten manche Bewohner sich gewundert, wie schnell bei der nordrhein-westfälischen Landesregierung in Düsseldorf behauptet wurde, das Kieswerk habe nichts zu tun mit dem "Loch", wie der Abbruch nun heißt. "Wenn ich das sehe", sagt Maria-Luise Kristen, "bleibt mir die Luft weg."

Wie sie leiden viele. Manche haben die Flut überstanden – aber meistern das Leben danach nicht. Sehr viele fühlen sich vergessen. Nur wenige sind so robust wie Marion Lehmann: Sie hat gesehen, wie die Ahr das Haus schräg gegenüber samt ihren Bewohnern fortriss. Sie hat gehört und gespürt, wie Bäume und Container gegen ihr eigenes Haus donnerten. Wie das Wasser hereinkam. Und sie hat am nächsten Tag losgelegt: ausräumen, planen, sanieren.

Viel Entschlossenheit

Seit Februar ist Marion Lehmann zurück in Ahrbrück, bewohnt ein Zimmer im ersten Stock, ein kombiniertes Schlaf-Wohn-Arbeitszimmer mit Küche. Sie arbeitet Vollzeit, baut am Abend und an den Wochenenden alles wieder auf. Sie unterstützt den alleinstehenden Nachbarn, der 84 ist. Und sie preist ihre Helfer. Bedauert, dass die Freiwilligen, wie überall, immer weniger werden. Zehn Jahre werde sie brauchen, bis alles fertig ist. "Pünktlich zur Rente." Marion Lehmann lacht.

Und ja: Sie gibt zu, dass die Angst jetzt ihre Begleiterin ist. Nicht immer spürbar, aber immer da. "Der Klimawandel", sagt Marion Lehmann. "Sie sagen uns ja, das kann immer wieder passieren", sagt auch Maria-Luise Kristen. Und niemand weiß, bis zu welcher Hausnummer das Glück dann reichen wird. (Cornelie Barthelme, 26.7.2022)