Die ganze Welt sieht und die Ukraine, das angegriffene Nachbarland, erlebt Tag und Nacht die Zerstörungskraft des großrussischen Nationalismus, benützt und manipuliert durch die Diktatur Wladimir Putins. Weniger bekannt sind Ursprung und Dynamik jenes von Moskau unterstützten nationalistischen Größenwahns in Bulgarien, der die EU-Erweiterung blockiert und zugleich die Heuchelei der westlichen Symbolpolitik hinsichtlich des sogenannten "Westbalkans" entlarvt.

"Wir sind die stärkste Nation auf dem Balkan!", sagte mir vor vielen Jahren der Chefredakteur der kommunistischen Lokalzeitung in Tirnovo, der Hauptstadt des Zweiten Bulgarischen Reiches im Mittelalter, als wir die vorbeimarschierenden jungen Kadetten der Offiziersschule beobachtet haben. "Keine andere Nation war 500 Jahre unter türkischer Herrschaft und konnte dennoch ihre nationale Identität, ihre Sprache und ihre Traditionen unversehrt bewahren."

Bulgarien ist das korrupteste Land der EU. Trotzdem sehen sich viele Bulgaren als die "stärkste Nation auf dem Balkan".
Foto: IMAGO/Hristo Vladev

Die Bulgaren, die Bismarck als "die Preußen des Balkans", bezeichnet hatte, ließen sich in der Zeit zwischen 1912 und 1944 in zwei Balkankriege und zwei Weltkriege verwickeln, um die Gebiete wiederzugewinnen, die im Friedensvertrag von San Stefano im Jahr 1878 versprochen worden waren und noch im gleichen Jahr auf dem Berliner Kongress wieder verlorengingen. Die Sehnsucht nach den Grenzen, die Bulgarien zum größten Staat auf dem Balkan gemacht hätten, nach der "Befreiung der verlorenen Gebiete", vor allem nach Mazedonien und Thrazien, beherrschte die bulgarische Politik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges.

Mazedonien als verhasstes Symbol einer Niederlage

Dieser nationale Mythos führte zum Bündnis mit Hitler-Deutschland und zur zeitweiligen Besetzung von Gebieten in Jugoslawien und Griechenland. Selbst während meiner wiederholten Reisen in das damals kommunistische Ostblockland spürte ich immer wieder das Gefühl betrogener Erwartungen. Die Entstehung und Entwicklung der jugoslawischen Teilrepublik Mazedonien wurde schon damals zum verhassten Symbol einer historischen Niederlage. Während die Griechen später bereit waren, dem unabhängigen Mazedonien nach langjähriger Obstruktion den Weg zur Europäischen Union freizumachen, nachdem der Name des Staates auf Nordmazedonien umbenannt worden war, hat Bulgarien als EU-Mitgliedsstaat jetzt unerfüllbare Bedingungen für die Aufhebung seines Vetos gestellt.

Die Mazedonier müssten ihre nationale Identität, Sprache und ihr Geschichtsbild aufgeben, um sich den bulgarischen Forderungen zu fügen. Der von den Regierungen in Berlin und Paris sowie von der EU-Kommission ausgeübte Druck hinter den Kulissen zugunsten der Annahme der bulgarischen Forderungen könnte sich als ein Bumerang erweisen. Bulgarien ist das korrupteste und politisch instabilste Land in der EU. Nach dem Sturz der Reformregierung Petkow könnten im Herbst die vierten Parlamentswahlen binnen 18 Monaten stattfinden.

Rund ein Viertel der zwei Millionen Einwohner Nordmazedoniens sind Albaner. Ihre Parteien in der Koalitionsregierung unterstützen im Interesse der EU-Annäherung die bulgarischen Forderungen. Dies ist aber Wasser auf die Mühlen der rechtsnationalistischen Oppositionspartei VMRO. Die mazedonische Zeitbombe tickt also weiter. (Paul Lendvai, 26.7.2022)