Wiltrud Stieger und Elena-Maria Knapp in "Ich bleibe hier" in Telfs.

Foto: Victor Malyshev

Der Kirchturm, der seit mehr als 70 Jahren einsam aus dem Reschensee ragt, ist eine millionenfach fotografierte Touristenattraktion, aber auch ein Symbol für staatliche Willkür und Entrechtung. Der Turm hat früher einmal die Häuser des Dorfes Graun im Südtiroler Vinschgau überragt, das 1950 einem gigantischen Stauseeprojekt des italienischen Energiekonzerns Montecatini weichen musste. Die Häuser von Graun wurden gesprengt, die Bewohner zwangsevakuiert und mit schändlich niedrigen Entschädigungen abgefertigt, das Dorf wurde geflutet. Nur der Kirchturm blieb stehen.

In seinem Roman Resto qui, zu Deutsch Ich bleibe hier, verwebt der italienische Bestsellerautor Marco Balzano die tragische Geschichte von Graun mit dem Schicksal einer jungen Frau, die nicht nur einmal vor die Frage gestellt wird, ob sie bleiben oder gehen soll. Italienischer Faschismus, die "Option" in Südtirol und der nahtlose Übergang von der Mussolini- zur Nazi-Diktatur bilden den zeitgeschichtlichen Hintergrund. Die Dramatisierung für die Tiroler Volksschauspiele Telfs besorgten deren künstlerischer Leiter Christoph Nix, Dramaturg Sven Kleine und Regisseur Lorenz Leander Haas. Am Uraufführungsabend kommt das Wasser zuerst von oben, ein kräftiger Sommerregen drückt die schwüle Hitze des Tages in den urigen Kranewitterstadl, wo es in unsichtbaren Schleusen bedrohlich blubbert. Die Angst, dass "es Wosser kimmt", wird für die Menschen in Graun zum jahrzehntelangen Begleiter.

Jahre zuvor: Die faschistische Regierung Italiens forciert das Stauseeprojekt, zwei junge Frauen aus Graun träumen von einer Zukunft als Lehrerinnen. Eine von ihnen heißt Trina, sie fungiert auch als Erzählerin – auf Hochdeutsch, während die kargen Dialoge im Tiroler Dialekt geführt werden. Nur die Landestheater-Doyenne Eleonore Bürcher als Trinas Mutter zieht da nicht mit, daran allein liegt es aber nicht, dass man hier bisweilen die Energie eines gut aufeinander abgestimmten Ensembles vermisst.

Holzschnittartiges Kammerspiel

Haas, Jahrgang 1996 und Regiestudent an der Ernst-Busch-Schule in Berlin, inszeniert Ich bleibe hier als etwas holzschnittartiges Kammerspiel in einer Tiroler Bauernstube. Unterm Herrgottswinkel wird viel Schnaps getrunken und mit geballten Fäusten ins Leere gestarrt. Ein entschiedener Zugriff auf den Stoff hätte manche Längen erspart. Für Trina jedenfalls gibt es auch private Tragödien zu beklagen (die Tochter setzt sich mit Optanten abschiedslos ins "Deutsche Reich" ab), und Wiltrud Stieger gelingen mit ihrer Darstellung der Hauptfigur einige eindringliche Momente zwischen bäuerlicher Härte, stiller Ohnmacht und Widerstandsgeist. Elena-Maria Knapp glänzt in einer Doppelrolle als Freundin Barbara und Sohn Michael, eindimensional bleibt Edwin Hochmuth als Trinas Ehemann Erich, der bis zuletzt gegen das Stauseeprojekt und den Verlust der Heimat kämpft. "Es Wossa kimmt" am Ende trotzdem. (Ivona Jelčić, 26.7.2022)