Auszählung in einem Wahllokal im tunesischen Ariana.

Foto: AFP / Fethi Belaid

Tunis – Nach dem umstrittenen Verfassungsreferendum in Tunesien hat Präsident Kais Saied versprochen, mit der neuen Verfassung "alle Forderungen des tunesischen Volkes" umzusetzen. Mehr als neun Millionen waren zu der Abstimmung am Montag aufgerufen. Mit offiziellen Ergebnissen wurde im Lauf des Dienstags gerechnet. Lokale Medien berichteten unter Berufung auf Ergebnisse einer Nachwahlbefragung, dass 92,3 Prozent dem Verfassungsentwurf zugestimmt hätten.

Allerdings haben laut der Wahlbehörde lediglich 28 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Die neue Verfassung tritt bei einfacher Mehrheit für den Entwurf in Kraft – unabhängig von der Wahlbeteiligung. Die Opposition hatte zu einem Boykott der Abstimmung aufgerufen, mit der sich der Präsident mehr Macht auf Kosten von Parlament und Justiz verschaffen will.

Zwischen Feiern und Angst

Kurz nach Bekanntgabe des Ergebnisses strömten hunderte Saied-Anhänger in der Hauptstadt Tunis auf die zentrale Habib-Bourguiba-Allee, um zu feiern. "Die Souveränität ist für das Volk", skandierten sie und wiesen Bedenken über eine Rückkehr zur Autokratie zurück. "Wir haben vor nichts Angst. Nur die Korrupten und die Beamten, die den Staat geplündert haben, haben Angst", sagte Noura bin Ayad, eine 46-jährige Frau, die eine tunesische Flagge schwenkte.

Vor einem Wahllokal im Norden der Hauptstadt Tunis sagte eine Frau, sie befürchte die Rückkehr zur Diktatur: "Ich werde Nein zu Saieds Verfassung sagen." Ein anderer Wähler sagte der Deutschen Presse-Agentur, die neue Verfassung sei der einzige Weg, um die Krise im Land zu beenden.

Frage der Demokratie

"Es gibt wichtige Reformen, die eingeleitet werden müssen", sagte Saied in der Nacht auf Dienstag laut der Nachrichtenagentur TAP. Mit der Verfassungsänderung würde er deutlich mehr Macht bekommen. Der Entwurf sieht unter anderem vor, dass er die Regierung sowie Richter ernennen und entlassen kann. Bisher setzte Saied viele solcher Entscheidungen per Dekret durch.

Tunesien war nach den arabischen Aufständen ab 2010 als einzigem Land der Wandel zur Demokratie gelungen. Kritiker werfen Saied vor, das Land nun wieder in eine Diktatur zurückführen zu wollen. Die Opposition hatte zum Boykott des Referendums aufgerufen. Sie betrachtet den gesamten Prozess als illegitim.

Abstimmung über Führung Saieds

Das Verfassungsreferendum wurde auch als Abstimmung über Saieds bisherige Führung angesehen. Die geringe Beteiligung könnte seinen Kritikern Aufwind geben und seine Legitimität schwächen. Viele Tunesier kämpfen mit Arbeitslosigkeit und Armut. Auf diese Probleme geht die neue Verfassung kaum ein.

Vor einem Jahr hatte Saied seine Macht gefestigt. Damals setzte den Regierungschef ab und zwang das Parlament, seine Arbeit auszusetzen. Später löste er es ganz auf. Er entließ zudem aufgrund angeblicher Korruption dutzende Richter. (APA, 26.7.2022)