Die 21 Buben in weißen Militäruniformen und rot-schwarzen Parademützen stehen aufgereiht in einem kalt ausgeleuchteten Festsaal. Das Intro eines Popsongs setzt ein, dann singen die Burschen im Chor: "Wenn der oberste Befehlshaber zum letzten Gefecht ruft: Onkel Wowa, wir sind mit dir!" Onkel Wowa – das ist ein liebevoller Spitzname für Russlands Präsidenten Wladimir Putin.

Auch von den Jüngsten wird in Russland oft das Zurschaustellen der eigenen Vaterlandsliebe erwartet, wie hier bei der Parade zum 9. Mai in Wladiwostok.
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Die Szene spielte sich kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine bei einer Veranstaltung einer Kadettenschule in Simferopol ab. Doch auch jenseits der Armee will der Staat patriotische Früherziehung betreiben.

Traditionalismus und Sowjet-Symbolik

Im Juli beschloss die russische Staatsduma die Gründung einer neuen "allrussischen Jugendbewegung". Sie soll die Vermittlung traditioneller Werte, eines orthodoxen Weltbildes, traditioneller – also ausschließlich heterosexueller – Familienbilder sowie der Liebe zum Vaterland zum Ziel haben.

Eine Schlüsselrolle kommt dabei Putin selbst zu: Allein er kann Aufsichtsratsmitglieder bestimmen und nach Belieben wieder abberufen. Von deren Zustimmung hängt trotz der Existenz einer Mitgliederversammlung das Gros der Entscheidungen untergeordneter Organe ab, wie es das Gesetz vorsieht.

So macht sich die Sorge breit, der Kreml könnte mit einem neuen Erziehungsorgan für Russlands Jüngste schlimmstenfalls eine Art Putin-Jugend basteln. Das Oppositionsmedium Meduza gab dem Projekt den Namen "Neue Pioniere", auch weil der Gesetzesentwurf symbolträchtig zum 19. Mai in die Duma eingegangen war. Die frühere sowjetische Jugendorganisation, die Kinder und Jugendliche im Sinne der Partei sozialisierte, feierte an diesem Tag 100-jähriges Jubiläum.

Politisches Einschwören

Wie der Vorläufer soll auch die neue Bewegung ihre Mitglieder aus Freiwilligen rekrutieren. "Letzten Endes bestand bei den Pionieren aber doch ein Zwang", relativiert die Historikerin Kathleen Beger. Sie forscht an der Uni Regensburg unter anderem zu Erziehungspolitik in der Sowjetunion. In den Schulen sei die Pionierbewegung mit ihren offiziellen Vorstellungen zur Erziehung überall präsent gewesen. "Die Umsetzung unterschied sich dann stark von Ort zu Ort", erklärt sie im Gespräch mit dem STANDARD.

So ambivalent die Ausgestaltung des sowjetischen Programms war, so schwer sei auch die genaue Umsetzung des neuen Gesetzes vorherzusagen, betont sie. Denn diese wird erst nach dem Beschluss konkretisiert. Doch es gebe Grund zur Besorgnis. "Die Vermutung liegt natürlich nahe, dass versucht wird, die Jugend auf Russlands außen- wie innenpolitische Ziele einzuschwören, darunter auch den Ukraine-Krieg. Denn die Jugend – das sind letztendlich auch künftige Soldaten."

Es könnte am Geld scheitern

Soll Russlands Jugend also an einen aggressiven Patriotismus herangeführt werden? Dafür spricht, dass das russische Kulturministerium nur wenige Wochen vor dem Überfall auf die Ukraine einen Beschluss zur "Wahrung traditioneller Werte" verabschiedete, dessen Ziele mit denen der neuen Bewegung quasi deckungsgleich sind. Zur Umsetzung sind darin auch Bildungsprojekte vorgesehen. Die neue Bewegung könnte ein solcher Schritt in eine patriotisch geprägte Erziehungspolitik sein.

Eine zentrale Frage ist die Finanzierung. Zwar ist Infrastruktur aus Pioniertagen – wenn auch oft baufällig – nach wie vor vorhanden. Außerdem seien viele der damaligen Praktiken, wie zum Beispiel die Sommerlager, wegen ihrer Fortführung durch oft private Anbieter nach wie vor gängig, berichtet Beger. "Dass der russische Staat in der Lage sein wird, ein flächendeckendes Angebot zu finanzieren, ist aber angesichts der Wirtschaftskrise, die dem Land droht, unwahrscheinlich."

Ob am Ende tatsächlich eine Neuauflage der Pioniere kommt oder ob es bei einem Strohfeuer bleibt, ist laut Beger abzuwarten. Für Letzteres spricht, dass mit der Organisation Naschi (auf Deutsch "Die Unseren") Mitte der Nullerjahre ein ähnlicher Versuch versandete.

Partner in der Ostukraine?

Doch zur Wahrheit gehört auch, dass Russland heute bemühter ist, seine Bürgerinnen und Bürger an den Staat und seine Ideologie zu binden. Seit Kriegsbeginn häufen sich Zeugnisse der Patriotisierung von Russlands Jüngsten, wie der eingangs erwähnte Chor oder eine Parade zum Siegestag am 9. Mai, bei der Kindergartenkinder in Pappmaché-Panzern mit aufgemaltem Z, dem Symbol des Angriffskrieges, durch eine Ortschaft stolzierten.

Kindergartenkinder in einer russischen Kleinstadt traten bei einer Parade zum Siegestag als Panzer und Militärflugzeuge auf.
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Die Gründung einer Jugendbewegung unter Aufsicht des Präsidenten passt in dieses Bild und lässt, trotz unwägbarer Ausgestaltung, wenig Gutes erahnen. Zumal man auch Kooperationen ins Auge fasst. Olga Kasakowa, Vorsitzende des Komitees für Aufklärung der Duma, kündigte an, mögliche analoge Projekte in den selbsternannten Volksrepubliken unterstützen zu wollen. Vielleicht müssen auch unter Besatzung lebende ukrainische Kinder also bald "Onkel Wowa" besingen. (Thomas Fritz Maier, 27.7.2022)