Die zwölfjährige Tinja (Siiri Solalinna) hütet das Ei eines Raben. Es entpuppt sich als ihr Unterbewusstes.
Foto: Andrejs Strokins / Polyfilm

Eine Hand greift von hinten an einen Mädchenrücken, der sich im babyblauen Trikot dehnt. "Bin ich nicht schrecklich?", fragt die Mutter mit eisernem Lächeln, während sie ihre Tochter mit dem Handy bei deren Gymnastikübungen filmt. Tinja (Siiri Solalinna), lange blonde Haare, zwölf Jahre alt und angehende Leistungsturnerin, ist der Star ihrs Videoblogs "Wundervoller Alltag". Die dafür produzierten Bilder sind so künstlich und clean wie die Modellhäuser, an denen ihr verdruckster Ehemann in seiner Freizeit herumbastelt: eine zur Schau getragene Familienidylle, viel Glas, getrocknete Blumendekorationen, helle Farben in allen Schattierungen zwischen Rosé und Taupe. Tinja ist Mutters "trophy kid", der Sohn kann einem fast noch mehr leidtun.

Der unerwartete Besuch eines schwarzen Raben wirft erstmals einen Schatten auf das adrette Heim. In seiner Panik zerstört der Vogel Teile der fragilen Inneneinrichtung, worauf die Mutter ihm den Hals umdreht. Das kurz vor seinem Ableben gelegte Ei versteckt Tinja in ihrem riesigen rosa Plüschteddy. Dort wächst es unter ihrer behutsamen Aufsicht und Pflege heran – bis das Stofftier in tausend Stücke zerfleddert auf dem Bett liegt.

Kontrolle und Grausamkeit

Mütterliche Übergriffigkeit, Kontrolle und Grausamkeit sind die eigentlichen Monster in Hanna Bergholms Spiel- und Horrorfilmdebüt Hatching. Für die namenlose Mutter (Sophia Heikkilä), eine ehemalige Eiskunstläuferin, zählt nur der Erfolg. Während die anderen Kinder ihre Freizeit genießen, muss Tinja trainieren, bis die Hände bluten und der Salto ohne Wackler gestanden wird. Dabei tarnt sich der Drill auf perfide Weise als komplizenhafte Freundinnenhaftigkeit ("wir Mädchen"). Im Wunsch, der Mutter zu gefallen, lächelt die Tochter den Schmerz weg. Sie hat es nicht anders gelernt.

RialtoDistribution

Hatching arbeitet mit bekannten Motiven des Genres – vom unheilvoll klingenden Schlaflied über das extraterrestrische Wesen, das vor der Familie versteckt werden muss, bis hin zum Doppelgängermotiv. Zu der düsteren Atmosphäre und Grindigkeit vergleichbarer Filme geht die finnische Regisseurin jedoch demonstrativ auf Abstand. Die lichten, pastellfarbenen Bilder erinnern eher an die adoleszenten Erfahrungswelten Sofia Coppolas, der Tonfall ist ironisch, aber in Maßen.

Zerfetztes Trikot

Tatsächlich entpuppt sich das frisch geschlüpfte Ding (der Animatronikdesigner Gustav Hoegen hat auch an einigen der Star Wars-Filme mitgearbeitet), nach dem elternlosen Babyvogel im Wiegenlied "Allie" genannt, als Tinjas verkörpertes Unbewusstes. Wenn es sich nicht gerade über den Hund des neuen Nachbarmädchens hermacht – ausgerechnet ihre größte Konkurrentin am Stufenbarren! –, ernährt es sich von Tinjas frisch Gekotztem. Im Mädchenzimmer herrscht bald eine große Sauerei. Allie schleimt auf Oberflächen, zerfetzt das Glitzertrikot für den anstehenden Wettbewerb, droht Tinjas versteckte Wünsche in blutige Tat umzusetzen.

Hatching erzählt im Gewand eines mitunter allzu erwartbaren Horrorfilms von einer allmählichen Befreiung. Der Kreislauf aus Ausbrüten und Heranwachsen schließt sich mit Tinjas Transformation zum eigenständig handelnden Wesen. Mit der neugeborenen Tochter wird die Mutter nichts zu lachen haben. (Esther Buss, 27.7.2022)