Fanden unter diesen Dächern des Huanan-Marktes in Wuhan die ersten zoonotischen Übertragungen von Sars-CoV-2 statt? Zwei Studien präsentieren dafür Indizien, die mittlerweile von Fachkollegen kritisch überprüft wurden.

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Mehr als zweieinhalb Jahre nach Beginn einer der tödlichsten Pandemie der vergangenen hundert Jahre verdichten sich die Hinweise, dass sie am Fisch- und Wildtiermarkt in Wuhan ihren Ausgang genommen haben dürfte. Das legen zwei Studien nahe, die bereits im Februar – allerdings nur als Preprints – erschienen waren (DER STANDARD berichtete). Am Dienstag wurden die Untersuchungen nun nach strenger Fachbegutachtung im renommierten Fachblatt "Science" inklusive einiger Ergänzungen offiziell publiziert, wodurch ihre Ergebnisse deutlich schwerer wiegen.

Die beiden Veröffentlichungen, die einander methodisch ergänzen, machen alternative Szenarien, die als Ursprung der Pandemie vorgeschlagen wurden – also insbesondere einen Laborunfall –, eher unwahrscheinlich, schließen ihn aber auch nicht vollständig aus. So bleibt nach wie vor ungeklärt, welche der am Huanan-Markt angebotenen Säugetierarten – Marderhunde, Larvenroller oder andere Spezies – den Zwischenwirt für das Virus bildeten, so es sich tatsächlich um einen zoonotischen Ursprung handeln sollte.

Geografische Verteilung als Hinweis

Die erste Studie unter der Leitung von Michael Worobey (Arizona University) und Kristian Andersen (Scripps Research in San Diego, Kalifornien) untersuchte das geografische Muster der Covid-19-Fälle im ersten Monat des Ausbruchs, also im Dezember 2019. Die Forscher konnten die Standorte fast aller 174 Fälle bestimmen, die von der Weltgesundheitsorganisation in diesem Monat identifiziert wurden, 155 davon in Wuhan. Die Analysen zeigten, dass sich diese Fälle eng um den Huanan-Markt gruppierten, während spätere Fälle weit über die Elf-Millionen-Stadt verstreut waren.

Bemerkenswert ist zudem, dass ein auffallend hoher Prozentsatz der frühen Covid-Patienten, von denen keine Verbindung zum Markt bekannt war, in der Nähe des Marktes wohnten. Dies spräche für die Annahme, dass der Markt das Epizentrum der Epidemie war, sagt Worobey. In dem von ihm und seinen Kollegen präsentierten Szenario infizierten sich die Verkäufer zuerst und lösten eine Kette von Infektionen unter den Menschen in der Umgebung aus.

Die Verbreitungsmuster am Beginn der Pandemie.
Grafik: Worobey et al., Science 2022

"In einer Stadt, die sich über mehr als 8.000 Quadratkilometer erstreckt, umfasste das Gebiet mit der höchsten Wahrscheinlichkeit frühester Covid-19-Fälle der Welt, wenige Häuserblocks, in denen sich der Huanan-Markt befand", resümiert der Evolutionsbiologe.

Umdenken bei Michael Worobey

Diese Schlussfolgerung wurde durch ein weiteres Ergebnis gestützt: Als die Autoren die geografische Verteilung der späteren Covid-Fälle von Jänner und Februar 2020 untersuchten, fanden sie ein "diametral entgegengesetztes" Muster, erklärt Worobey, der überzeugt ist, dass Sars-CoV-2 "wirklich auf diesem Markt entstanden ist und sich von dort aus verbreitet hat".

Worobey war übrigens einer der Forschenden, die im Mai vergangenen Jahres einen offenen Brief unterzeichnet hatten, der ebenfalls in "Science" erschien und in dem dazu aufgerufen wurde, die Theorie eines Laborunfalls im Institut für Virologie in Wuhan weiter in den Blick zu nehmen. Die seitdem gesammelten Erkenntnisse hätten ihn aber zum Umdenken bewegt, sagte der Evolutionsbiologe bei einem Pressegespräch am Dienstag.

Co-Autor Kristian Andersen räumte am Dienstag aber auch ein, dass die Theorie eines Laborlecks mit der Studie nicht völlig widerlegt sei. Es sei aber wichtig zu verstehen, "dass es mögliche und wahrscheinliche Szenarien gibt. Und dass möglich nicht gleich wahrscheinlich ist." Anders gesagt: Das Markt-Szenario sei das wahrscheinlichere.

Weitere neue Indizien

In einer wichtigen Ergänzung zu ihren früheren Erkenntnissen gingen die Forschenden auch auf die Frage ein, ob die Gesundheitsbehörden Fälle in der Nähe des Marktes gefunden hätte, nur weil sie dort gesucht haben. Worobey dementiert das: "Diese Patienten wurden erfasst, weil sie im Krankenhaus waren, und nicht, weil sie dort wohnten."

In weiteren Analysen berichtet er mit seinem Team, dass mehrere plausible Wildtier-Zwischenwirte von Sars-CoV-2-Vorläuferviren bis mindestens November 2019 lebendig auf dem Huanan-Markt verkauft wurden. Unter Verwendung und Erweiterung eines Datensatzes zu Proben von Oberflächen auf dem Huanan-Markt identifizierten sie zudem fünf Stände, die wahrscheinlich lebende oder frisch geschlachtete Säugetiere verkauften. Die Nähe zu solchen Verkäufern lebender Säugetiere war laut den Analysen ein guter Prädiktor für menschliche Virusfälle.

Doppeltes Überspringen

Um die Umstände, die zur Entstehung der Pandemie führten, besser zu verstehen, analysierten Jonathan Pekar (University of California in San Diego) und sein Team in einer zweiten Studie die genomische Vielfalt von Sars-CoV-2 ganz zu Beginn der Pandemie. Während die Vielfalt von Sars-CoV-2 mit der Ausbreitung der Pandemie von China auf andere Länder zunahm, markierten zwei Linien – bezeichnet als A und B – den Beginn der Covid-19-Pandemie in Wuhan.

In den elf sequenzierten Genomen von Menschen, die direkt mit dem Huanan-Markt in Verbindung standen, war nur die Linie B vertreten. Die frühesten Genome der Linie A von Menschen hatten hingegen keinen bekannten Kontakt zum Markt, sondern wurden Menschen entnommen, die in der Nähe lebten. Deshalb wurde die Hypothese aufgestellt, dass sich die beiden Linien getrennt voneinander entwickelt haben. Um diese Hypothese zu überprüfen, analysierte Pekars Team genomische und epidemiologische Daten aus der Frühphase der Covid-19-Pandemie mit Modellen und Simulationen.

Genaueres Zeitfenster

Ihre fachbegutachteten Analysen sprechen für zwei getrennte zoonotische Übersprungereignisse der Linien A und B, die beide zuvor in nichtmenschlichen Säugetieren zirkulierten. Dabei dürfte die Linie B frühestens Ende Oktober 2019 und wahrscheinlich Mitte November 2019 erstmals beim Menschen aufgetreten sein; die Linie A hingegen soll innerhalb von Tagen bis Wochen nach diesem Ereignis übergesprungen sein.

Das stehe auch im Einklang mit Ergebnissen der Studie von Worobey. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Sars-CoV-2 vor November 2019 ziemlich sicher nicht in großem Umfang beim Menschen zirkulierte. Zudem definieren sie das enge Fenster zwischen dem Zeitpunkt, an dem Sars-CoV-2 erstmals auf den Menschen übersprang, und dem Zeitpunkt, an dem die ersten Fälle von Covid-19 gemeldet wurden.

Einschränkungen und offene Fragen

Die Autorinnen und Autoren der beiden "Science"-Studien räumen zwar gewisse Einschränkungen ihrer Ergebnisse ein. Und sie plädieren dafür, sich bei weiteren Analysen auf ein besseres Verständnis der Ereignisse zu konzentrieren, die der Einführung von Sars-CoV-2 in den Markt vorausgingen. Denn einen endgültigen Beweis und eine "smoking gun", um welche Tierart als Zwischenwirt es sich konkret gehandelt haben könnte, können sie noch nicht vorlegen.

Gelingen könnte das unter anderem durch die Beantwortung der Frage, woher die am Huanan-Markt zum Verkauf angebotenen wildlebenden Säugetiere stammten – um so auch das Risiko künftiger Pandemien zu verringern. (Klaus Taschwer, 27.7.2022)