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Über Daten zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen kursieren viele Fehlinformationen, kritisiert Suizidologe Tyler Black.

Foto: Getty Images / Clarkland Company

"Als Suizidologe und Notfallpsychiater arbeite ich die ganze Zeit mit Kindern in suizidalen Krisen, forsche und unterrichte in dem Bereich", erzählt der Psychiater Tyler Black, der die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der University of British Columbia in Vancouver leitet, dem STANDARD, "nie hätte ich gedacht, dass dieses Forschungsgebiet so ein Politikum wird."

Schon zu Beginn der Pandemie war er erstaunt über "eine Explosion von Fehlinformationen über Suizide und suizidale Gedanken". Dabei sei es "sicher schon 30- oder 40-mal passiert, dass ein öffentlicher Vertreter eine Behauptung über mentale Gesundheit aufstellte und diese zurückziehen musste, sobald jemand nach Zahlen fragte, die das Gesagte untermauerten. "Weil jene Daten, die zur Verfügung standen, das nicht belegen konnten", sagt Black. Was er und Kolleginnen und Kollegen hier beobachteten, nennt Black eine "moralische Panik in der Gesellschaft".

Analysen

Auf Twitter ist Black seit etwa zehn Jahren und hat dort seit Jahren über 40.000 Follower, viele davon Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt. Er teilt hier seit Jahren Analysen von Daten zur psychischen Gesundheit Kinder und Jugendlicher. Zu seiner Überraschung wurde Black, der kein Deutsch spricht, in eine Twitter-Diskussion mit Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) hineingezogen, weil Black jemand in Österreich getaggt hatte. Durch den Übersetzungsbutton konnte Black die Tweets von Rauch lesen. Rauch löschte dann – DER STANDARD berichtete – seine Tweets, in denen er die Abschaffung der Quarantäne mit dem Anstieg von psychischen Erkrankungen und Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen um 25 Prozent begründete. Er habe das aus Gesprächen mit Personen "aus dem Feld", schrieb der Minister auf eine Frage von Black zurück. Daten hatte er nicht.

Keine Daten aus Österreich

"Es gibt auch keine zur Suizidalität von Kindern in Österreich seit 2015", sagt dazu Black und weist auf das Problem von anekdotischen Gesprächen hin. Denn die Wahrnehmung habe sich während der Pandemie geändert: "Etwa in Notfallambulanzen, wo viele Ärzte den Eindruck haben, dass mehr psychisch Erkrankte zu ihnen kamen. Aber dem war nicht so, tatsächlich kam es zu einer Verringerung von allgemeinen Aufnahmen, während die Zahl jener mit psychischen Erkrankungen gleich blieb, also sahen die Ärzte und Ärztinnen proportional mehr Fälle psychischer Erkrankungen, obwohl sich diese nicht gesteigert hatten. Black analysierte hierfür Zahlen aus Kanada, den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. "Es war überall das Gleiche", sagt der Forscher.

Dort, wo es Zahlen gibt, sei es wichtig, auf die Qualität der Studien zu achten, sagt Black. Etwa ob man dieselben Kinder über Jahre untersuche, ob man Zahlen von vor der Pandemie zum Vergleich habe und wie sehr man differenziere, was Kinder während Corona belastete. Eine große niederländische Studie mit über 1000 Kindern kam etwa zu dem Schluss, dass jene, die schon vor der Pandemie Probleme hatten, teilweise sogar eine Besserung erlebten.

Mehr Essstörungen

Jene, denen es vorher besser ging, ging es während Lockdowns schlechter. Angststörungen oder Verhaltensstörungen wurden etwas besser, Essstörungen schlimmer. Ähnliche Ergebnisse brachte eine ganz neue Studie seiner eigenen Uni.

Allgemein kann man sagen: Mädchen litten eher unter Depressionen als Buben, bei Letzteren stellten sich sogar teilweise Besserungen ein. In den USA bleiben sie mit wenigen Ausreißern fast seit 30 Jahren gleich. Signifikantere Anstiege gab es ab 2016, nicht erst mit dem Beginn von Corona. "Große Sorgen machen wir uns um vulnerable Gruppen. Egal ob sie Diabetes, einen Immundefekt oder eine psychische Erkrankung haben, kann bestimmt jede Infektion für sie eine Bedrohung ihres Lebens bedeuten", erklärt Black.

"Wovon Sie immer ausgehen können, ist, dass die Suizidraten im nächsten Jahr fallen oder steigen werden", betont Black, "sie sind nie ganz gleich wie im Vorjahr. Aber über die Jahre und Jahrzehnte sehe man keine großen Schwankungen, auch nicht in der Pandemie. Bei Suizidraten müsse man also mit Interpretationen besonders aufpassen.

Mehr Suizidgedanken

Von einer Zunahme der Suizidgedanken bei Jugendlichen im Verlauf der Corona-Pandemie berichtet hingegen Christoph Pieh, Professor für Psychosomatische Medizin und Gesundheitsforschung an der Donau-Uni Krems. Zwischen Februar 2021 und Mai 2022 wurden dort in fünf Wellen 14- bis 20-jährige Besucher weiterführender Schulen zu ihrem psychischen Befinden befragt.

Den Probandinnen wurde dabei unter anderem der PHQ-9-Gesundheitsfragebogen vorgelegt, der international als Screening-Instrument zur Diagnose von Depressivität entwickelt wurde. Auf die Frage, wie oft sie Suizid- oder Selbstverletzungsgedanken hätten, antworteten im September und November 2021 46 Prozent der Mädchen und 32 Prozent der Burschen, dass das zumindest "an einzelnen Tagen" der Fall sei.

In der Vor-Corona-Zeit sei dieser Anteil geringer gewesen, sagt Pieh – und bezieht sich mangels Zahlen aus Österreich auf eine deutsche Quelle. Laut der Heidelberger Schulstudie von 2007 hätten 20 Prozent der Mädchen und zehn Prozent der Burschen von derlei Suizid- und Selbstverletzungsgedanken berichtet. Die Zunahme schlage sich auch stationär nieder: "Die Spitalsaufnahmen von Kindern und Jugendlichen wegen Suizidversuchen am Wiener AKH haben sich in der Pandemie verdoppelt." (Colette M. Schmidt, Irene Brickner, 26.7.2022)