"Wofür Intellektuelle seit dem 24. Februar nicht eintreten und worüber nicht geschrieben und gestritten wird, verdient Aufmerksamkeit", findet der Soziologe Christian Fleck im Gastkommentar.

Warum richten westliche Intellektuelle eigentlich keine offenen Briefe an den russischen Präsidenten Wladimir Putin?
Foto: Imago Images / Itar-Tass / Mikhail Klimentyev

Deutsche und österreichische Intellektuelle schreiben neuerdings gerne offene Briefe. Zuletzt sogar, ohne einen Empfänger zu nennen. Darin erteilen sie anderen Ratschläge: Bundeskanzlern, der ganzen Ukraine, merkwürdigerweise aber nicht Wladimir Putin. Über alle Differenzen zwischen den widerstreitenden Briefen hinweg tritt eine denkwürdige Gemeinsamkeit auf: Intellektuelle wurden zu Hobbymilitärstrategen, die Bescheid wissen, welche Waffen und welche militärische Strategie denn die richtige wäre. Und, Denker und Dichter fordern im Modus exaltierter Besorgnisträgerschaft die Ukrainerinnen und Ukrainer auf zu kapitulieren, da die von den Briefschreibern ausgezirkelten Grenzen des moralisch nicht mehr Hinnehmbaren übertreten seien.

Am Beginn der öffentlichen Intellektuellen stand 1898 Émile Zolas "J’accuse!" ("Ich klage an"), 2022 rufen dessen Ururenkel: "Ergebt euch!" Wofür Intellektuelle seit dem 24. Februar nicht eintreten und worüber nicht geschrieben und gestritten wird, verdient Aufmerksamkeit.

"Warum fordert niemand ein internationales Gerichtsverfahren gegen die Befehlsgeber des Überfalls auf ein Nachbarland?"

"Wir" könnten doch die Regierungen der Freunde der Ukraine (also "unsere" Seite) auffordern, von Russland, seinen Eliten und den gewöhnlichen Russen zu verlangen, "ihre" Hauptverantwortlichen an ein Sondertribunal auszuliefern. Wenn es denn richtig ist, dass der Überfall Russlands auf die Ukraine eine grobe Verletzung regelgeleiteter internationaler Beziehungen war und ist, dann liegt der Ruf nach einer gerichtlichen Untersuchung doch eigentlich auf der Hand. Warum fordert niemand ein internationales Gerichtsverfahren gegen die Befehlsgeber des Überfalls auf ein Nachbarland?

Bislang traten 123 Staaten dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bei, der für solche Verfahren erfunden wurde. Russland und die Vereinigten Staaten gehören nicht dazu. Die europäischen Staaten, einschließlich Großbritanniens, sind hingegen Vertragspartner. Was hindert also die europäischen Regierungen, ein formelles Strafverfahren einzuleiten? Wohl nur die Rücksichtnahme auf die USA. Hindert das "uns" (wer immer das sein mag), das zu fordern? Was sind gute Gründe, für ein internationales Strafgerichtsverfahren einzutreten und die Werbetrommel zu rühren?

Nebulose Forderungen

Intellektuelle kümmern sich zu Recht selten um Realpolitik. Doch warum unterschreiben sie verschwurbelte offene Briefe, in denen ein unscharfes "Wir" nebulose Forderungen an nicht näher benannte Akteure richtet? Selbst wenn alle Forderungen aller offenen Briefe erfüllt würden – was allein schon wegen ihrer widerstreitenden Positionen unmöglich ist –, änderten sich die Rahmenbedingungen für regelbasierte internationale Beziehungen dadurch keinen Millimeter weit. Allein schon die Ankündigung, ein Gerichtsverfahren initiieren zu wollen, hätte hingegen Folgen.

Aus den bisherigen Verfahren vor internationalen Gerichtshöfen lassen sich ein paar Lehren ziehen: Die Prozesse in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegen deutsche und japanische Kriegsverbrecher erlangten trotz des Siegerjustizmakels beachtliche Reputation.

Vor dem Haager Strafgerichtshof standen bislang nur nichtwestliche Angeklagte, was Vorbehalte gegen dessen Legitimität förderte. Die Verfahren gegen Radovan Karadžić, Slobodan Milošević, Ratko Mladić und dutzende andere fanden vor einem eigens für diesen Fall eingerichteten Gerichtshof statt, der kraft Beschlusses des UN-Sicherheitsrats ins Leben gerufen worden war. Vermutlich wurden zu viele Verfahren parallel geführt, doch an der juristischen Korrektheit der Verfahren äußerten nur Benebelte und Verwirrte Zweifel.

Die drei Wichtigsten

Aus den Ex-Jugoslawien betreffenden Verfahren sollte man den Schluss ziehen, dass es vorteilhafter ist, sich auf wenige Angeklagte zu konzentrieren. Die drei wichtigsten Verursacher der gegenwärtigen Gefährdung des Weltfriedens, also der russische Präsident Putin, sein Verteidigungsminister Sergej Schoigu und der Generalstabschef der Streitkräfte Waleri Gerassimow sollten angeklagt werden, und Intellektuelle, denen der Weltfrieden, aber auch die Zukunft einer souveränen Ukraine ein Anliegen sind, sollten dafür werben.

Natürlich ist es im Moment völlig unrealistisch zu erwarten, dass ein internationaler Haftbefehl gegen die drei Tatverdächtigen deren Auslieferung nach sich zieht. Allerdings würde es in Russland vielleicht eher zu einer Spaltung der Eliten führen und die russische Bevölkerung eher zur Abwendung von der heimischen Propaganda veranlassen. In jedem Fall aber wäre es ein Plädoyer für regelbasierte Konfliktbewältigung und hätte den charmanten Nebeneffekt, dass sich habituelle Antiamerikaner nicht mehr als Putin-Versteher verkleiden müssten. (Christian Fleck, 27.7.2022)