Selfies sind beliebt, können aber offenbar so peinlich werden, dass man für ihre Löschung bereit ist, straffällig zu werden, wie sich bei einem 46-jährigen Angeklagten zeigt.

Foto: EPA / David Maung

Wien – "Wie kommt es zu so einem Gewaltausbruch?", wundert sich Richter Christian Gneist im Verfahren gegen Christian P., einen unbescholtenen 46-Jährigen. Die Geschichte, die er zu hören bekommt, erstaunt und bedrückt zugleich, zeigt sie doch, wie bitter manche Lebenswege verlaufen.

Das wird schon zu Beginn klar, als der Richter die persönlichen Daten überprüft. P. ist zwar ausgelernter Handwerker, aber seit 17 Jahren arbeitslos und Notstandshilfebezieher. "Ich war obdachlos, bin Alkoholiker, habe gesundheitliche Beschwerden", erklärt der Angeklagte, der keinen verwahrlosten oder beeinträchtigten Eindruck macht. "Ich habe seit 21 Jahren meine Kinder nicht mehr sehen dürfen", fügt P. als Erläuterung noch an.

Angeklagter "ein ruhiger Mensch"

Seine Alkoholisierung sei auch der Hintergrund der beiden von der Staatsanwältin vorgebrachten Anklagepunkte: Im vergangenen September soll er einen Bekannten in dessen Wohnung attackiert haben, im Juni seiner Mutter Faustschläge und Tritte verpasst und sie so leicht verletzt haben. "I bin a ruhiger Mensch", beteuert der Angeklagte, und er trinke nur, wenn er alleine daheim sei. Genauer: "Wenn ich zu viel nachdenke."

Der eingangs zitierte Gewaltausbruch bezieht sich auf den Angriff auf die Mutter, zu dem P. sich schuldig bekennt. "Ich war betrunken", wiederholt er mehrmals, warum er nach einem Telefonat mit seiner Mutter quer durch Wien fuhr. "Ich war in Rage", entschuldigt er sich zusätzlich. In dem Gespräch kündigte er an: "Ich werd gleich kommen und dir einen Denkzettel verpassen" – wofür, weiß er nicht mehr.

Um 19 Uhr klopfte er an der Wohnungstür der Eltern, deckte den Türspion ab. Als sein Vater einen Spalt öffnete, drückte er die Tür auf und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Dann stürmte P. ins Wohnzimmer, schlug der Mutter mit den Worten: "I bring di um, du blede Sau!" gegen den Kopf und trat noch auf die Liegende ein und verletzte sie leicht. Als der Vater mit der Polizei drohte, verschwand der 46-Jährige so schnell, wie er gekommen war.

Seit fünf Jahren keinen Kontakt zu Eltern

Wie sich im Prozessverlauf herausstellt, haben der Angeklagte und seine Eltern seit 20 Jahren kein gutes Verhältnis, seit 2017 bestand de facto gar kein Kontakt mehr. "Wieso haben Sie an dem Tag angerufen?", interessiert Gneist. "Ich bin daheim gesessen und habe im Handy geschaut, bei wem ich mich schon lange nicht mehr gemeldet habe", lautet die Antwort.

Dann liefert P. eine Erklärung für die lange Funkstille: "Ich habe genug Watschen kriegt", behauptet er über seine Kindheit und Jugend. "Meine Mutter hat mir einmal das Ohr so lang gezogen, bis es eingerissen ist", erinnert er sich. "Sie hat mich auch mit dem Kochlöffel geschlagen, bis der zerbrochen ist." Sein Vater habe ihm einmal mit einem Faustschlag einen Zahn ausgeschlagen, da er einen blutigen Knochen nicht fertig abnagen wollte. "Die Mutter ist danebengestanden und hat gelacht." Auch sonst habe ihn seine Mutter ständig beleidigt. "Familie kann man sich nicht aussuchen", resümiert der Angeklagte trocken.

Selfie auf Facebook als Motiv

Zum Angriff auf einen Bekannten im vergangenen September bekennt sich P. dagegen zunächst nicht schuldig. Das Motiv für diese Attacke ist eher ungewöhnlich: "Er hat ein Selfie von sich gemacht, auf dem ich auch drauf war. Das hat er dann auf Facebook gestellt. Ich habe ihn gebeten, es zu löschen, das wollte er nicht." – "Was war an dem Bild so schlimm?", fragt der Richter. "Es war ein sehr peinliches Foto", bleibt der Angeklagte vage.

Seinen Unmut scheint P. aber auch in diesem Fall in sich hineingefressen zu haben. Rund ein Jahr später, er war wieder alleine daheim und wieder betrunken, besuchte er den Bekannten erstmals wieder. "Wir haben darüber geredet, dann hat er eine kassiert", fasst P. das Geschehen äußerst knapp zusammen.

"Also bekennen Sie sich doch schuldig?", ist Gneist verunsichert. "Schuldig?", versteht P. den Anklagevorwurf nicht ganz. "Des tuat ma ja ned, dass man jemanden einfach schlägt!", klärt der Richter den ohne Verteidiger erschienenen Angeklagten in einfacher Sprache über die Rechtslage auf. "Foto online stellen aber auch nicht", kontert der, ehe er doch eingesteht, falsch gehandelt zu haben.

Furchtloses Opfer

Bei der Verlesung der Aussage des unverletzt gebliebenen Opfers wird klar, dass P. auch damals außer sich gewesen sein muss. Er schmiss einen Tisch um, nannte ein anwesendes Haustier "Scheißkotznviech" und bedrohte den Wohnungsbesitzer mit dem Umbringen. Der das trotz der Schläge nicht ernst nahm. "Ich hatte keine Angst, dass er das wirklich machen würde", versicherte er den Polizisten, er habe einfach die Wohnung verlassen.

Richter Gneist kann noch immer nicht ganz nachvollziehen, wieso P. erst so lange später so aggressiv auf tatsächliches oder vermeintliches Unrecht reagiert. "Jetzt sind Sie doch schon älter, und vorher war auch nie was?", merkt er an. Der Angeklagte hat keine wirkliche Erklärung. "Haben Sie sonst noch mit jemandem eine Rechnung offen?", will Gneist zur Sicherheit wissen. "Nein." – "Das wird nie wieder vorkommen?" – "Ehrenwort."

"Was haben Sie jetzt noch für Pläne für die Zukunft?", will der Richter noch ergründen. "I muass mei Kuchl renovieren", gibt der Angeklagte preis. "Arbeiten wollen Sie nicht?", stellt Gneist eine längerfristige Option in den Raum. "Im Unterhaltsverfahren ist von einem Gutachter festgestellt worden, dass ich arbeitsunfähig bin", bescheidet ihm der 46-Jährige.

Eltern wollen Kontaktverbot

Irene Oberschlick, die die Mutter des Angeklagten rechtlich vertritt, beantragt am Ende eine Weisung für ein Kontaktverbot, Schmerzengeld wird keines geltend gemacht. P. ist damit einverstanden. Auf die Frage des Richters sagt er auch, dass er bereits in einer Alkoholentzugstherapie sei, die derzeit aber ausgesetzt sei. "Warum?", ist Gneist misstrauisch. "Der Therapeut hat ein Baby bekommen." – "Väterkarenz ist sehr löblich, aber wenn deshalb eine Therapie unterbrochen wird ist das auch, na ja", meint der Richter.

Schlussendlich verurteilt er den Angeklagten wegen gefährlicher Drohung, Hausfriedensbruch und Körperverletzung zu neun Monaten bedingter Haft, dazu kommen die Weisungen zur Entzugstherapie und das Kontaktverbot. "Passt schon, ich nehme es an", ist der Angeklagte zufrieden. Da er aber unvertreten ist, hat er automatisch drei Tage Bedenkzeit. Auch die Staatsanwältin gibt keine Erklärung ab, die Entscheidung ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 27.7.2022)