Vor gut 600 Millionen Jahren begann die Blütezeit der mehrzelligen Organismen. In dieser Ära des Lebens namens Ediacarium bevölkerten merkwürdige Kreaturen die Meere, besonders sein letzte Abschnitt vor 575 bis 541 Millionen Jahren ist von teilweise bizarren Fossilien geprägt, die nur wenig mit der Fauna nachfolgender Erdzeitalter gemein haben. Eines davon haben nun britische Wissenschafter als das älteste bekannte Raubtier identifiziert. Seine Beute dürfte freilich ziemlich klein gewesen sein.

Das im Charnwood Forest in Leicestershire, England, entdeckte Fossil wurde auf ein Alter von 560 Millionen Jahre datiert. Es könnte sich um einen Vorläufer der modernen Nesseltiere handeln, vermuten die Forschenden. Der berühmte britische Tierfilmer, Naturforscher und Schriftsteller Sir David Attenborough fungierte als Namenspatron der neu entdeckten Spezies. Auroralumina attenboroughii ist übrigens nicht das erste Ediacarawesen, das seinen Namen trägt. 2018 wurde ein winziges, rosinenförmiges Tier Attenborites janeae getauft. Insgesamt sind mehr als ein Dutzend ausgestorbene und lebende Spezies und Gattungen nach Attenborough benannt worden.

Auroralumina attenboroughii dürfte sich von tierischem Plankton ernährt haben, was das Wesen zum ältesten bekannten Räuber macht.
Foto: Simon Harris/Rhian Kendall/BGS/UKRI

Schüler widerlegte Experten

Attenborough hatte als Schüler selbst nach Fossilien gesucht. "Die Gesteine, in denen Auroralumina jetzt entdeckt wurde, waren damals als zu alt eingeschätzt worden, um Fossilien zu enthalten", sagte 96-Jährige. "Deshalb habe ich dort auch nie nach ihnen gesucht." Einige paar Jahre später jedoch habe Roger Mason, ein Junge von seiner Schule, bei der Fossiliensuche doch etwas gefunden – und damit die Experteneinschätzung widerlegt. "Er wurde damit belohnt, dass seine Entdeckung seinen Namen (Charnia masoni, Anm.) bekam. Jetzt habe ich ihn – fast – eingeholt und ich bin wirklich entzückt."

"Das Wesen gleicht ein wenig der olympischen Fackel, wobei man sich die Tentakel als Flammen vorstellen kann", meint Frankie Dunn von der University of Oxford, die gemeinsam mit ihrem Team nun im Fachjournal "Nature Ecology and Evolution" über das Wesen berichtet. Der Fund verschiebt nicht nur den Moment, da räuberisch lebende Tier die Bühne betraten, um rund 20 Millionen Jahre nach hinten, er lieferte auch das erste bekannte Beispiel eines Organismus mit einem echten Skelett.

Die Abdrücke im Schluffgestein sind mehr als eine halbe Milliarde Jahre alt.
Fotos: BGS/UKRI

Die Umrisse des Meereslebewesens zeichnen sich als rund 20 Zentimeter großer Abdruck auf einer Schluffsteinplatte ab, umgeben von zahlreichen anderen Fossilien. Aufgrund der Fundumstände gehen die Forschenden davon aus, dass die Tiere bei einem Vulkanausbruch von Sedimenten und Asche bedeckt wurden, was ihren guten Erhaltungszustand erklären würde. Die "Unglücksstelle" war bereits 2007 entdeckt worden, doch es vergingen 15 Jahre, ehe Expertinnen und Experten sich einen Überblick verschaffen konnten, womit sie es hier zu tun hatten.

Berühmte Ediacarium-Fundstelle

Die Fundstelle in Leicestershire ist berühmt für ihre zahlreichen Fossilien aus dem Ediacarium. Als diese Ärä mit ihrem merkwürdigen Kreaturen vor 541 Millionen Jahren zu Ende ging, vermutlich als Folge eines Massenaussterbens, kam es zu einem radikalen Faunenwechsel. Die fremdartigen Ediacarawesen verschwanden und binnen fünf bis zehn Millionen Jahren entwickelten sich völlig neue Spezies, die beinahe alle heute noch existierenden Tierstämme repräsentierten. Das als kambrische Artenexplosion bekannte Evolutionsereignis ist seit langen Gegenstand wissenschaftlicher Spekulationen.

Mittlerweile zweifeln viele Paläotologinnen und Paläontologen daran, dass die Artenexplosion tatsächlich in dieser Form stattgefunden hat. Vielmehr dürften zumindest einige der neuen Lebensformen aus der Ediacara-Fauna hervorgegangen sein. Den plötzlichen Fossilienreichtum des Kambriums erklärt man sich mit der Entwicklung von harten Schutzpanzern, die sich besser erhalten als die weichen Körper der Ediacara-Organismen.

Aus dem Abdruck im Gestein schlossen die Forschenden auf ein Anemonen-ähnliches Wesen mit einem festen Außenskelett.
Foto/Illustr.: BGS/UKRI

Nesseltiervorfahre mit Außenskelett?

Auroralumina attenboroughii untermauert diese These. Nach Meinung der Forschenden könnte das Tentakelwesen, das sich wahrscheinlich von tierischem Plankton ernährte, mit den späteren Nesseltieren, also Quallen, Korallen und Seeanemonen, verwandt sein. Die deutlicher hervortretenden Abrücke der Stiele weisen darauf in, dass es sich hier um eine Art Außenskelett handeln könnte, die die sich die Tentakel vielleicht zurückziehen konnten.

"Dies ist der Beweis, dass schon im Präkambrium modern aussehende Organismen existiert haben. Das bedeutet auch, dass die Zündschnur für die kambrische Explosion wahrscheinlich ziemlich weit zurück reicht", sagte Phil Wilby, leitender Paläontologie des British Geological Survey.

Der Charnwood Forest in Leicestershire ist berühmt für seine Felsen, in denen sich zahlreiche Schätze aus dem Ediacarium verbergen.
Foto: UKRI

Noch eine Premiere

Aufgrund ihrer Analysen reiht das Team um die Paläobiologin Frankie Dunn Auroralumina in die Nesseltier-Untergruppe der Medusozoa ein, zu denen auch moderne Quallen gehören. Medusozoen durchlaufen in ihrem komplexen Lebenszyklus verschiedene Stadien, darunter auch sesshafte. Auroralumina könnte eine solche immobile Entwicklungsphase repräsentieren.

"Das interessante an diesem Fund ist: Wir vermuten, dass Auroralumina sich hier aufteilt. Wir können zwei 'Kelche' erkennen, die sich in der Nähe der Basis vereinigen", meinte Dunn gegenüber BBC News. Leider sei das Fossil jedoch unvollständig. Eine solche Gabelung – der Fachbegriff ist Bifurkation – wäre eine weitere Premiere für ein Fossil aus dieser Ära. (tberg, 28.7.2022)