Lippenherpes ist der tägliche Begleiter von 3,7 Milliarden Menschen unter 50 Jahren. Das Virus mit dem medizinischen Namen HSV-1 wird von Mund zu Mund übertragen, versteckt sich lebenslang im Körper und löst schmerzhafte Fieberblasen aus. Forscherinnen und Forscher haben nun die Vergangenheit dieses viralen Plagegeists aufgedeckt.

Für die im Fachblatt "Science Advances" veröffentliche Studie analysierten ein internationales Forscherteam etwa 3.000 DNS-Proben von archäologischen Funden. Die Wissenschafter und Wissenschafterinnen fanden nur in vier Fällen das Herpesvirus. Die älteste Probe kam von einem Mann, der in der russischen Uralregion lebte und aus der späten Eisenzeit vor etwa 1.500 Jahren stammte.

Schädel eines untersuchten Mannes, der das prähistorische Rheinland bewohnte. Als Raucher war seine Mundhöhle angegriffen, was dem Lippenherpes optimale Bedingungen bot.
Foto: Dr. Barbara Veselka

Genetischer Stammbaum

Durch eine Sequenzierung der Genome der Viren und einem Vergleich zu Proben aus dem 20. Jahrhundert konnte das Team eine Mutationsrate und die Evolution des Virus abschätzen. "Gesichtsherpes versteckt sich lebenslang in seinem Wirt und wird nur durch oralen Kontakt übertragen, sodass Mutationen langsam über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg auftreten", sagte Ko-Autorin Charlotte Houldcroft von der Universität Cambridge (UK). So hohe Mutationsraten, wie wir sie etwa bei Covid-19 sehen, sind daher nicht zu erwarten.

Die Entwicklung von Herpes ging also zunächst schleppend voran. "Vor etwa fünftausend Jahren geschah dann etwas, das es einem Herpesstamm ermöglichte, alle anderen zu überholen", sagt Christiana Scheib. Die Archäologin leitet das Institut für Prähistorische DNS an der estnischen Universität Tartu und ist Ko-Autorin der Studie.

Übertragungsbooster Kuss

Der Siegeszug des Lippenherpes fällt also in die Bronzezeit, einer Periode großer Wanderbewegungen. Menschen migrierten von den Steppen Eurasiens nach Europa, wo die Bevölkerungsdichte stark anstieg. Beste Voraussetzungen also für die Verbreitung eines Virus. Zusätzlich hatten die Einwanderer eine neue Kulturpraxis im Gepäck: den romantischen Kuss.

Küssen ist nicht in aller Welt verbreitet. So schön ein Kuss ist, neben zahlreichen Viren werden dabei auch bis zu 80 Millionen Bakterien übertragen.
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Die früheste bekannte Überlieferung des Küssens ist nach Angaben des Forscherteams ein Manuskript aus der Bronzezeit in Südasien. Die Wissenschafter vermuten, dass der Brauch – bei weiten nicht universell in der menschlichen Kultur – mit einer Wanderungsbewegung aus Eurasien nach Europa gekommen sein könnte. Der Aufschwung des oralen Herpes könnte also mit dem Aufkommen der kulturellen Praxis des sexuellen und romantischen Küssens zusammengefallen sein.

Küssen nicht universell

Tatsächlich scheint ein Dekret des römischen Kaisers Tiberius in die gleiche Richtung zu weisen: Der Imperator untersagte Küssen bei öffentlichen Veranstaltungen, womöglich um die Ausbreitung von Lippenherpes einzudämmen. Gelungen ist das freilich nicht, denn für den größten Teil der Menschheitsgeschichte wurde das Virus vertikal weitergegeben: von der infizierten Mutter auf ihre neugeborenen Kinder.

Auch heutzutage ist der romantische Kuss übrigens nicht in allen Teilen der Welt verbreitet. Eine Studie des Kinsey Instituts an der Indiana University kam 2015 zu dem Ergebnis, dass es nur in 46 Prozent der 168 untersuchten Kulturen erfolgt. Insbesondere im Mittleren Osten, in Nordamerika und Europa werden demnach viele Küsse verteilt. Bei afrikanischen Kulturen südlich der Sahara, auf Neuguinea oder in Zentralamerika spiele der mit Liebe und Sexualität verbundene Kuss eher keine Rolle. (dos, APA, 28.7.2022)