Wenige Stunden nachdem ukrainische Behörden am Morgen des 28. Juli über starke russische Raketenangriffe auf die Oblasts Kiew und Tschernyhiw berichtet hatten, richtete der ukrainische Fernsehsender Apostroph TV eine eindringliche Botschaft an die Bürgerinnen und Bürger des Landes. Eine patriotische Rede des Präsidenten Wolodymyr Selenskyi, untermalt von Aufnahmen feuernder Panzer, sollte die Bevölkerung auf den "Tag der ukrainischen Staatlichkeit" einschwören, der am 155. Tag des russischen Angriffskrieges zum ersten Mal überhaupt begangen wurde.

Mit einem Videoclip, der an den Trailer eines Blockbusters erinnert, sendete ein ukrainischer Fernsehsender eine patriotische Botschaft an die Bürgerinnen und Bürger des Landes.
Апостроф TV

Das Datum des neuen Festtages, der erst im vergangenen Jahr beschlossen wurde, ist alles andere als zufällig gewählt. Es bezieht sich auf den Tauftag des Herrschers des historischen Großfürstentums Kiewer Rus, Wladimir, im Jahr 988 – und damit auf einen Gründungsmythos, den sowohl Russland als auch die Ukraine für sich beanspruchen. Spätestens seit Beginn des Ukraine-Konfliktes 2014 birgt dieser akuten politischen Sprengstoff.

Kontroverse Nachfolgedebatte

Beide Länder sehen sich als Nachfolgestaaten des damaligen Fürstentums. Während Russland sich auf die angebliche Kontinuität zwischen der Rus, dem Moskauer Zarentum und dem später Russischen Kaiserreich als dessen machtpolitische Nachfolger stützt, steht für die Ukraine die Gründung des ersten slawischen und christlich-orthodoxen Reiches auf dem eigenen heutigen Staatsgebiet im Vordergrund.

Besonders brisant: Für Russland folgt aus dem eigenen Argument ein Autoritätsanspruch für alle Gebiete der sogenannten "russischen Welt", wie der imperialistische Sammelbegriff für Russland, Belarus und die Ukraine lautet.

Kein Wunder also, dass mit der Annexion der Krim auch die offizielle russische Erinnerungspolitik Großfürst Wladimir wieder aus der Mottenkiste hervorholte. Erst im Jahr 2016 wurde in Moskau, direkt vor den Mauern des Kreml, ein gigantisches, 16 Meter hohes Denkmal für ihn errichtet. Präsident Wladimir Putin behauptete in seiner Rede zur Eröffnung der Statue, sein historischer Namensvetter habe "den Weg gebahnt zu einem starken, zentralisierten russischen Staat" – obwohl Moskau damals noch nicht einmal existiert hatte.

Klare Worte vor Kiewer Panorama

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges mobilisiert nun auch Kiew die Erinnerung an das alte Reich, um die eigene Souveränität von den imperialen Ansprüchen Moskaus abzugrenzen. Präsident Selenskyi fand in einer achtminütigen Videobotschaft deutliche Worte, um die Einheit und Kontinuität des Landes zu beschwören. Seit jeher habe es Kräfte gegeben, welche die Ukraine "zu versklaven und zu zerstören versuchten. Doch seit jeher haben wir es ihnen nicht erlaubt", sagte er. Im Hintergrund: ein Panoramablick über Kiew mit einer Statue des Fürsten Wladimir, die der in Moskau ganz ähnlich sieht, im Zentrum.

Bei Feierlichkeiten zum Tag der Staatlichkeit im westukrainischen Lwiw wird die ukrainische Flagge gehisst.
REUTERS/STRINGER

Am ersten Tag der Staatlichkeit, der ansonsten eher dezent gefeiert wurde, ist die Ansage in Richtung Russland klar. Man werde sich großrussischen Vorstellungen nicht fügen und weiter die eigene Linie der Kontinuität fortziehen, die mit der Kiewer Rus beginne. Umso symbolträchtiger scheint es, dass ausgerechnet am Morgen des Feiertages laut ukrainischen Angaben die Oblasts Kiew und Tschernihiw von Russland unter schweren Beschuss genommen wurden.

Rhetorisches Fernduell

Die Regionen befinden sich weit von der Front im Osten und Süden des Landes entfernt. Die Raketenschläge kamen umso überraschender, als beide Oblasts in den letzten Wochen von russischen Angriffen verschon geblieben waren. "Es war ein unruhiger Morgen. Aber wir lassen uns nicht einschüchtern. Die Ukraine ist ein unabhängiger, freier und geeinter Staat. Und wird immer ein solcher bleiben", band Selenskiy auf Telegram die Angriffe in seine Rhetorik zum Feiertag ein.

Ob die Angriffe an einem bedeutungsschwangeren Datum reiner Zufall waren oder ob auch die russische Seite zum Tauftag Wladimirs ein Zeichen setzen wollte, lässt sich schlicht nicht sagen. Sicher ist aber, dass Selenskyis Worte auch in Moskau gehört wurden und eine genauso eindeutige Replik erhielten.

"Prinz Wolodymyr," wandte sich die medial umtriebige Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, per Wortspiel an den Präsidenten: "Seien Sie nicht beleidigt, wenn ein Teil der Ukraine in Zukunft Rus heißen wird." Der Erinnerungsstreit wird in Zukunft wohl kaum an Brisanz verlieren. (Thomas Fritz Maier, 28.7.2022)