Willibald "Willi" Cernko galt bis 2016 als "Urgestein" der Bank Austria (BA), des Erzrivalen der Erste Group. Seit 1. Juli ist er deren Vorstandsvorsitzender. Das kam recht überraschend.

STANDARD: Sie waren sehr lang in der Bank Austria, zuletzt acht Jahre als Vorstandschef, bis 2016. Hätten Sie sich je träumen lassen, dass Sie dereinst Chef der Erste Group werden?

Cernko: Nein. Meine Lebensplanung war eine ganz andere, ich wollte nah der Bank Austria keine operative Leitungsfunktion mehr haben, wollte in Aufsichtsräte unterschiedlicher Industrien. Die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, war nicht sehr ausgeprägt. Aber dann kam eine SMS von Andreas Treichl, ob ich nicht in den Vorstand der Erste Bank kommen wolle: "We want you, and we want that fast." So hat das Ganze angefangen.

Willibald Cernko will "richtigen Drive" in die Erste Group bringen. Als "Platzhalter" sieht er sich nicht, obwohl er nur für zweieinhalb Jahre bestellt wurde.
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STANDARD: Jetzt sind Sie Bernd Spalt gefolgt, der nach zweieinhalb Jahren wegen Auffassungsunterschieden ging. So etwas gab es noch nie in der Bank, Treichl war 23 Jahre lang Chef. Werden Sie jetzt einmal Scherben aufkehren müssen hier?

Cernko: Ich werde Neuorientierung geben. Ich bin eine integrative Persönlichkeit, kann gut zuhören und lasse Diskussionen zu. Es wird jetzt wieder Ruhe ins System einkehren – ich entscheide aber auch und werde eine sehr aktive Rolle spielen.

STANDARD: Das Alterslimit für den CEO liegt bei 65. Sie wurden am 15. Juni bestellt, am 7. Juli wurden Sie 66. War "arschknapp", um es mit dem Bundespräsidenten zu sagen.

Cernko: Ja, witzig. Ging sich grad aus.

STANDARD: Ihr Vertrag läuft bis Ende 2024. Fühlen Sie sich als Platzhalter? Nach Ihnen könnte dann Peter Bosek kommen, Ex-Erste-Österreich-Chef, der gerade in Estland arbeitet.

Cernko: Ich bin definitiv kein Platzhalter. Ich habe viel Zeit mit dem Nominierungsausschuss des Aufsichtsrats verbracht, um meine Rolle klar festzulegen: "Wenn ihr jemanden wollt, der in den nächsten Monaten in der Früh um sechs Uhr auf- und am Abend zusperrt, dann bin ich das nicht. Ich bin bereit, das zu machen, wenn ihr wen wollt, der eine sehr aktive Rolle spielt." Es geht jetzt darum, zügig in ein produktives Fahrwasser zu kommen und am Ende meiner Tätigkeit möglichst viele Kandidaten verfügbar zu haben, die sich um meine Nachfolge anstellen. Da wird es einige geben, die aufzeigen, auch aus dem Haus.

STANDARD: Sie sehen sich also als eine Art Inkubator für potenzielle CEOs?

Cernko: Als Developer, ja. Und ob Peter Bosek dann auch aufzeigen wird, müssen Sie ihn fragen.

STANDARD: Mit dem Nachfolger-Aufbauen hatte es Treichl nicht so, oder?

Cernko: Er hat Tolles aufgebaut. Wenn jemand so lang so erfolgreich ein Haus führt, entsteht immer ein großer Schlagschatten. Und der, der ihm folgt, hat es schwer, ein eigenes Profil zu entwickeln, das ist ganz klar. Es gibt ja auch die Ansicht, dass immer erst der zweite Nachfolger jenen Freiraum hat, den er braucht. Das muss man einfach sehen.

STANDARD: Sie haben Ihren Job in schwierigen Zeiten angetreten. Die Bank steht zwar gut da, aber die Rahmenbedingungen sind hart: Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation, Gaskrise. Erwarten Sie mehr Pleiten und faule Kredite, müssen Sie höhere Vorsorgen bilden?

Cernko: Wir sind zutiefst überzeugt, dass das Szenario "No gas from Russia" nicht eintritt. Wir werden eine Prolongation des Status quo erleben, dieses Taktierens von Russland. Natürlich erwarten wir aber, dass es für Private wie Unternehmen extrem herausfordernd wird. Wir gehen sehr wohl von einem Anstieg der Insolvenzen aus und haben die Reserven, die wir für Covid angelegt hatten, aufgelöst und welche für die neue Situation gebildet, sodass der Rückstellungspuffer netto gleich ist.

Cernko ist überzeugt, dass es zu keinem völligen Stopp der Gaslieferungen aus Russland kommen wird.
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STANDARD: Die Erste ist auch in Ost- und Südeuropa tätig, wie groß sind da die Gefahren aus dem Ukraine-Krieg?

Cernko: Wir sind nicht in Russland und der Ukraine tätig, grenzen aber geografisch an die Konfliktzone. Das beobachten die Investoren natürlich mit Argusaugen, aber da sind nicht nur wir exponiert, sondern ganz Europa ist es. Was sich da erwarten lässt? Ich glaube nicht, dass wirtschaftliche Sanktionen über Russland allein die Antwort sein können. Ich würde mir wünschen, dass man zudem mit Russland ins Gespräch kommt. Das werden wohl hohe Vertreter der US-Administration sein müssen.

STANDARD: Motto der Erste Group ist es, ihren Kunden zu "finanzieller Gesundheit" zu verhelfen. Assoziieren Sie damit nicht Spital und Wartezimmer beim Arzt?

Cernko: Nein, überhaupt nicht, wir haben das auch abgetestet. Unser Zugang: Es geht darum, finanziell auf gesunden Beinen zu stehen, und wir wollen die Leute dabei unterstützen.

STANDARD: Die "Vision" der Erste Group klingt nach einer Art Banker-Glaubensbekenntnis: "Wir glauben an Banking von Menschen für Menschen", "Wir versprechen Fairness und Ausgewogenheit bei allem, was wir tun". Ist das nicht etwas beliebig?

Cernko: Nein, nein, nein. Wenn man solche Prinzipien festlegt, bringt das im Haus viele Debatten – etwa darüber, ob wir unseren Kunden Verträge mit 20 Seiten vorlegen müssen oder ob es nicht auch auf simplen zwei Seiten geht, deren Text man auch versteht. Das wäre fair. Wir wollen die Vorgänge einfacher, transparenter und verständlich machen, damit der Kunde dann in die Lage versetzt wird, selbst zu entscheiden, weil er die Chancen und Risiken noch besser abschätzen kann.

STANDARD: Die Erste sagt auch, jeder Mensch habe "ein Recht auf Wohlstand", sie will dazu beitragen. Angesichts der Inflation können sich manche den Einkauf nicht mehr leisten. Wie wollen Sie da helfen, Wohlstand zu schaffen?

Cernko: Wir alle, nicht nur die Banken, müssen sicherstellen, dass genug Liquidität zur Verfügung steht. Wir als Bank werden flexibel sein müssen – aber auch Politik, Energieversorger und Handel müssen überlegen, wie man den Menschen entgegenkommen kann. Und die Regierung muss punktgenau helfen, nicht mit der Gießkanne. Denn wir dürfen den bereits massiv strapazierten gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht ganz verlieren. Und: Es wird morgen nicht vorbei sein. Die Energiepreise werden wohl zwei, drei Jahre auf dem heutigen Niveau bleiben.

STANDARD: Wie genau wird die Erste ihre Flexibilität gegenüber den Kunden zeigen? Höhere Überziehungsrahmen, milde Kreditzinsen?

Cernko: Wir als Bank können nur Liquidität zur Verfügung stellen. Wir wollen aber aktiv auf die Kunden zugehen und ihnen alle Möglichkeiten aufzeigen. Auch das verstehen wir unter finanzieller Gesundheit.

Dass sich die EZB unter Christine Lagarde so lang mit der Zinserhöhung Zeit gelassen hat, stößt auf viel Kritik. Cernko erwartet weitere Zinsschritte.
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STANDARD: Die Europäische Zentralbank, die für Preisstabilität steht, hat erst jetzt den Leitzins erhöht. Zu spät?

Cernko: Da würden wir jetzt über vergossene Milch reden. Jedenfalls ist es nicht zu spät, und Faktum ist, dass es heuer noch ein oder zwei weitere Zinserhöhungen geben wird. Aus unserer Sicht wird es die auch brauchen.

STANDARD: Ein besonderes Problem ist die Preissteigerung bei Immobilien, Wohnen wird unleistbar. Die Aufsicht hat nun die Kriterien für Immobilienkredite verschärft. Einverstanden damit?

Cernko: Was am frei finanzierten Markt angeboten wird, ist weit weg von leistbarem Wohnen. Für die neuen Regelungen mag es gute Gründe geben, aber aus meiner Sicht nehmen sie zu wenig Rücksicht auf die Jungen und Bezieher niedriger Einkommen. Woher sollen denn Jungfamilien, selbst wenn beide arbeiten, 20 Prozent Eigenkapital nehmen, außer Papa und Mama oder Oma und Opa springen ein? Das Korsett aus Ausnahmen ist zu wenig flexibel, da müssen weitere Ausnahmen geschaffen werden, vor allem für junge Familien. Dafür werde ich mich einsetzen.

STANDARD: Apropos. Werden Sie – wie Ihre Vorgänger Treichl und Spalt – Obmann der Sparte Banken und Versicherungen in der Wirtschaftskammer?

Cernko: Ja. Am 1. August.

STANDARD: Die EU hat gerade Energiesparmaßnahmen verkündet, einige Staaten bestanden auf Ausnahmen. Driftet die EU auseinander?

Cernko: Ich sehe ein anderes Problem. Wir müssen jetzt auf Energiequellen wie Kohle zurückgreifen, die wir längst ins Abstellkammerl verbannt haben. Das hat pragmatische Gründe: Wir wollen alle Möglichkeiten nützen, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu gefährden. Das Risiko daran: Sind wir dann diszipliniert genug, das wieder in die Abstellkammer zurückzustellen? Das wird entscheidend für Europa sein: Wollen wir einen Beitrag zum Klima schaffen, müssen wir dann schnell wieder zurück zu den längst definierten Zielen. Dann müssen auch die Rahmenbedingungen etwa für erneuerbare Energie passen. Die Regierung muss die Genehmigungs- und Widmungsverfahren total entstauben, vereinfachen und massiv beschleunigen. Denn wie sollen sich private Investoren für Projekte finden, wenn die Genehmigungsverfahren zwölf, 15 Jahre dauern?

Die EU stuft in ihrer Taxonomie Investitionen in Atomkraftwerke als grün ein. Cernko findet das "nicht gut".
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STANDARD: Stichwort Atomkraft. Gemäß EU-Taxonomie gelten Investments in Atomkraft und Erdgas als grün. Wie sehen Sie das?

Cernko: Finde ich nicht gut. Mit derselben Geschwindigkeit, mit der man Atomkraft grün gefärbt hat, sollte man die ökologischen Alternativen ermöglichen, auf die wir setzen.

STANDARD: Der Währungsfonds hat seine Wachstumsprognose weiter hinuntergeschraubt. Was erwarten Sie und Ihre Ökonomen?

Cernko: Gemäß Basisszenario, wonach es weiterhin Gas gibt und der Ukraine-Krieg im derzeitigen Rahmen bleibt, gehen wir von einem Wirtschaftswachstum in Österreich von 3,8 Prozent und in unseren Märkten insgesamt im Schnitt von 3,7 Prozent aus, im nächsten Jahr etwas weniger. Kommt das No-Gas-Szenario, geraten wir in eine Rezession, das können in Österreich schon minus fünf bis minus sieben Prozent werden.

Cernkos Vorvorgänger Andreas Treichl prägte die Erste Group 23 Jahre lang. Bevor Cernko bestellt wurde, erwog er, selbst noch einmal an die Holding-Spitze zurückzukehren.
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STANDARD: Noch einmal zu Ihnen. Treichl war der längstdienende Bankchef weit und breit, einer, der auf der Stadthallenbühne beim Erste-Jubiläum Klavier spielte und sang. Womit werden Sie Erste-Geschichte schreiben?

Cernko: Klavierspielen hab ich outgesourct, in die kompetenten Hände meiner Frau (sie ist Pianistin, Anm.). Ich bin überzeugt: Ich kann sehr viel Spirit in dieses Haus bringen. Wenn die Leute am Ende sagen: "Der Willi hat einen richtigen Drive reingebracht", und die Mannschaft hat Zusammenhalt, dann passt es. (Renate Graber, 30.7.2022)