Jenny imaginiert einen weltfremden Weltallexperten.

Foto: Izawuiel Tomé Photography

Die gewitzte Einstiegszene bietet auch das beste Bild des neuen Romans von Zoë Jenny: Marty, Leiter des Astronomischen Instituts in Wien, wäre beinahe, wie er selbst lakonisch konstatiert, "Opfer der Schwerkraft" geworden, als er ein großes Fenster zu kippen versuchte. Nach einem leichten Ruckeln aber hob er das ganze Fenster aus den Angeln.

Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass der Experte für Schwarze Löcher nun mit Verwunderung auf jenes Loch starrt, "wo sonst das Fenster war". Im nächsten Satz wird sogleich mit einem Augenzwinkern festgehalten, wie die Energie des Weltalls auch die Lichtverhältnisse im Büro des Professors verändert.

Doch was eine Wissenschaftssatire hätte werden können, entwickelt sich schon bald zu einer ernst gemeinten, aber nicht immer ernst zu nehmenden Auseinandersetzung mit sehr vielen Themen, die aus der Perspektive des Weltraumforschers verhandelt werden.

Marty ist leicht misanthropisch; er beobachtet die Menschen wie Sterne, fasziniert und mit wissenschaftlicher Distanz. Ähnlich ambivalent auch sein Verhältnis zu Frau und Tochter. Marlene bevorzugt Abenteuersex mit Handschellen, Marty aber sucht keine Aufregung, sondern möchte beim Sex vor allem entspannen: "Im Grunde war es ihm gleichgültig, was sie im Bett trieben, solange sie ihn nicht lächerlich machte."

Für den Mann, der sich ständig mit nur schwer vorstellbaren Phänomenen wie dem Ereignishorizont in der allgemeinen Relativitätstheorie beschäftigt, erscheinen irdische Sehnsüchte, überhaupt das modische Palaver von sexueller Identität, ziemlich grotesk zu sein. Sein Desinteresse an der eigenen Familie führt nicht zuletzt dazu, dass Marty erst spät begreift, dass sich seine siebzehnjährige Stella längst auf einer anderen Umlaufbahn befindet. In den Worten der Tochter: "Du lebst in einer Blase."

Literarischer Baukasten

So richtig diese Feststellung, sie führt auch zum Erzählproblem des Textes. Obwohl Der verschwundene Mond in der dritten Person geschrieben ist, bleiben wir immer in der Blase des Astronomen. Dementsprechend eindimensional sind alle anderen Figuren gezeichnet, die niemals aus dem Schablonendenken des Professors heraustreten können.

Insbesondere Marlene und Stella wirken eher wie Charaktere aus dem literarischen Baukasten, die nur eine Funktion haben, nämlich die Kreise des Professors zu stören. Zunächst aber entfliehen die beiden Frauen dem Alltag, der ihnen kaum Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Die Tochter wird mit einer "Busenfreundin" am Meer campieren, die Gattin eine Freundin auf Bali besuchen.

Obwohl er die Sehnsüchte nicht nachvollziehen kann, ist es ihm recht, eine Zeitlang allein zu sein. Doch die Ruhe währt nicht lange. Nach einem wissenschaftlichen Kongress überreicht der Psychoanalytiker und Hobbyastronom Gerhard Steindorfer dem verehrten Kollegen ein umfangreiches Manuskript, das der Frage nachgeht, warum "wir mehr über weit entlegene Planeten wissen als über unser eigenes Bewusstsein".

Steindorfer bittet Marty um ein Feedback, und tatsächlich bewirken schon wenige Steindorfer-Sätze, dass sich Marty mit seinem Leben etwas grundsätzlicher beschäftigt. Erinnerungen an die Kindheit werden abgerufen, die verwahrloste Mutter wird besucht, und bald reift sogar der fast schon zärtliche Gedanke, er könne der Frau nach Bali hinterherfliegen.

Durchgedrehtes Horoskop

Zoë Jennys neuer Roman ist angesichts der zahlreichen Zufälle und erstaunlichen Wendungen erstaunlich kurz, zumal die 127 Seiten ein ambitioniertes Ziel verfolgen. Das chaotische Universum, das unkalkulierbare Zerfallen und Entstehen kosmischer Substanz, wird immer wieder mit dem Durcheinander des Daseins auf der Erde ins Verhältnis gesetzt.

Doch erhellend sind die Bezüge nicht immer, die Sentenzen über den Lauf der Zeit wirken oft angelesen. Der Fortgang der Story liest sich zuweilen, als handele es sich um ein durchgedrehtes Horoskop. Marty wird jedenfalls, kaum ist er auf Bali gelandet, kurz mal mit der transsexuellen Lola ins Bett gehen, was den ordentlichen Cis-Mann nachhaltig verwirrt. Beziehungsweise zu mehr Nachsicht seiner Tochter Stella gegenüber führt. Denn die will nicht länger als Frau leben. Auf Facebook und nicht am Familientisch gab Stella bekannt, dass sie fortan Stuart genannt werden wolle.

Zweideutigkeiten

Zoë Jenny, "Der verschwundene Mond". 20,– Euro / 127 Seiten. Frankfurter Verlagsanstalt, 2022
Cover: Frankfurter Verlagsanstalt

Warum ein ernstes Thema, das gleichwohl einen Medienhype erfährt, auf wenigen Seiten abgehandelt werden muss, ist nur eine der vielen Schwächen des Buchs. Vor allem bietet der Roman, der mit allerlei Weltraumwissen auffährt, literarisch zu wenig. Die Geschichte handelt zwar von den Verwirrungen eines Protagonisten, der nie verwirrt sein will, doch auf sprachlicher Ebene wird diese Spannung kaum sichtbar.

Auffällig sind plumpe Formulierungen, etwa wenn Marty die schöne Lola kennenlernt: "Ihr Lächeln kam wie ein Geschoss in seine Richtung." Das ist unfreiwillig komisch, auch weil im Satz zuvor von der "Anmut" jener Frau die Rede war.

Ohnehin scheint die Autorin ihren Mangel an sprachlichem Gestaltungsvermögen mit einem emphatischen Adjektivgebrauch wettmachen zu wollen, etwa wenn von "irritierender Schamlosigkeit", "stumpfsinniger Sicherheit" oder "anmaßender Selbstverständlichkeit" die Rede ist.

In diesem Roman, der von Zweideutigkeiten handelt, werden die Geschehnisse überdeutlich beschrieben, als wolle Jenny die Themen ihres Romans mit einem starken Photonenstrahl ausleuchten. Auch wenn das Weltall zig Geheimnisse bietet, sind die Figuren in dieser irdischen Weltraumgeschichte nahezu eindimensional. (Carsten Otte, ALBUM, 31.7.2022)