Karl Nehammer zeigte bisher wenig Ansätze, um die großen Krisenthemen konzeptuell anzugehen; außerdem irritiert er durch schlechte Witze und schlechtes Management der Leibwächteraffäre.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Karl Nehammer geht auf "Sommertour" durch die Bundesländer. Er soll auf 200 Veranstaltungen das "persönliche Gespräch mit Funktionären und unterstützenden Personen" suchen. Statt Familienurlaub in Griechenland. Der wurde ursprünglich mit der Begründung abgesagt, der Kanzler müsse wegen Energiekrise und Teuerungsbekämpfung dableiben. Aber die Hinweise auch aus der ÖVP verdichten sich: Nehammer kämpft um sein Amt.

Die Reise zur "Basis" soll abwenden, was in den höheren Rängen der Volkspartei bereits bei manchen als beschlossene Sache gilt: Nehammer wird ausgetauscht. Seine schwache Performance und die noch schwächeren Umfragewerte für die ÖVP (22 Prozent) und auch für ihn selbst als Kanzler (19 Prozent) haben Überlegungen in diese Richtung stärker werden lassen. Als Nachfolger wird der aus Vorarlberg stammende Magnus Brunner genannt, dazu später mehr.

Für die Desillusionierung mit Nehammer gibt es einige objektive Gründe. Aber der dritte Kanzlertausch innerhalb von nicht einmal einem Jahr wäre ein Zeichen, dass mit der großen, traditionellen, einst starken ÖVP fundamental etwas nicht stimmt. Über Nehammer ist zu reden, aber mindestens so sehr über den strukturellen Zustand der Österreichischen Volkspartei. Das ist auch von gesamtstaatlichem Interesse.

Strudel von Skandalen

Denn ein Kanzler- und Obmannwechsel kann nicht die alleinige Lösung für die Volkspartei sein. Sie muss sich fragen, wie sie dem Schicksal anderer europäischer christlich-konservativer Parteien, vor allem der Democrazia Cristiana in Italien, entgeht. Die dominierte jahrzehntelang die Politik, ehe sie in einem Strudel von Skandalen und Misswirtschaft versank. Heute ist sie von einem Mischmasch an rechtspopulistischen bis postfaschistischen (Lega, Fratelli d’Italia, Forza Italia) und linkspopulistischen (Cinque Stelle) Parteien abgelöst worden.

Das ist in Ansätzen auch in Österreich zu beobachten: Zwischen FPÖ und ÖVP herrscht ein großer Wähleraustausch, daneben tauchen immer wieder Kleinparteien wie jetzt die MFG auf. Deren Hintergrund ist aber fast immer große Systemskepsis, die meist nichts anderes als Demokratieskepsis ist.

Und dann haben sich da natürlich die Neos als bürgerlich-liberale Alternative zu einer ÖVP verfestigt, die selbst unter Kurz zu einer rechtskonservativen, nationalistischen Bewegung geworden ist. Der wirtschafts- und gesellschaftspolitisch liberale Flügel der ÖVP, der früher oft das geistige Fundament lieferte, ist weg.

Liberalen Flügel verloren

Die ÖVP hat – hauptsächlich unter Sebastian Kurz – ihren liberalen Flügel verloren oder vertrieben, wie man es bezeichnen will. Sie hat kurzfristig rechts denkende Wähler – stark von der FPÖ, aber auch etwas von der SPÖ – gewonnen und fast 40 Prozent erreicht. Nur ein knappes Jahr später, nach dem Abgang von Kurz, wird die ÖVP aber schon wieder von ganz rechts bedroht, von der FPÖ und von Verschwörungsschwurblern wie der MFG. Die ÖVP bindet keine rechten Ausreißer mehr. Im Gegenteil, sie läuft Gefahr, großteils durch die neuen Rechtspopulisten ersetzt zu werden.

Sie ist aber auch – wieder großteils unter Kurz – in schwere Korruptionsturbulenzen geraten und unternimmt nichts, um da wieder herauszukommen. Vor allem aber hat die ÖVP ihren früheren Ruf als Macht- und Macherpartei verloren, als eine politische Kraft, die zwar schlitzohrige Politik betreibt, aber die Dinge im Griff hat.

Die Kanzlerpartei liefert nicht

Die Kanzlerpartei ÖVP liefert keine handfesten Ergebnisse, weder in der Corona-Politik noch in der Russland-Energiepolitik. Sie gibt keine Orientierung, eher verbreitet sie interessengetriebenes Chaos, wie bei der Aufhebung der Corona-Quarantänebestimmungen, die von "der Wirtschaft" gefordert wurden.

Nehammer selbst hat als Kanzler noch keine große Rede gehalten, in der er der Bevölkerung zumindest ein realistisches Lagebild über die Herausforderungen im kommenden Herbst und Winter vermittelte.
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Nehammer selbst hat als Kanzler noch keine große Rede gehalten, in der er der Bevölkerung zumindest ein realistisches Lagebild über die Herausforderungen im kommenden Herbst und Winter vermittelte. Im Gegenteil, er flüchtet in die altbekannten Themen wie Migration und EU-Bashing, die die FPÖ besser kann. Der Kanzler lädt Putins Maulwurf in der EU ein, den ungarischen Autokraten Viktor Orbán, redet von "Freundschaft" und betreibt in dessen Gegenwart EU-Beschimpfung.

Nehammer, Mitte Mai mit 100 Prozent zum ÖVP-Chef gewählt, ist es auch nicht gelungen, den Geruch der Korruption von der Volkspartei wegzubringen. Er hat es auch gar nicht versucht. Am Anfang stand eine absurde Aussage: "Die ÖVP hat kein Korruptionsproblem" – obwohl täglich neue Enthüllungen in den Medien auftauchten.

Dass die Volkspartei mit dem Korruptionsproblem nicht zurande kommt, hat auch einen strukturellen Grund: Sie ist es einfach nicht gewohnt, dass so viel so penibel dokumentiert ist und auch noch von der Justiz, konkret der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) beharrlich ermittelt wird.

Korruptionsproblem

Postenschacher, Begünstigung von Großspendern aus der Wirtschaft, dubiose Geldbeschaffungsaktionen für die Partei – das sind sozusagen traditionelle Bräuche, über die sich inner- und außerhalb der ÖVP niemand besonders aufgeregt hat (außer der jeweilige politische Gegner in oft gekünstelter Empörung). Auch in der Bevölkerung wurde das lange hingenommen mit dem Bemerken: "Die sind alle so."

Allerdings nur, solange die Volkspartei "geliefert" hat – sprich: ihre Kernklientel, hauptsächlich Bauern, kleine Gewerbetreibende und öffentlich Bedienstete, mit allerhand goodies versorgt hat, meistens aus Steuergeld. Solange das Gefühl herrschte, da an der Spitze sitzt ein Kanzler, der weiß, was zu tun ist. Das war das letzte Mal beim sonst eher ungeliebten Wolfgang Schüssel der Fall.

Jeder wusste, dass es Korruption gibt, aber nicht im Detail und schwarz auf weiß. Die aufgetauchten Chats, hauptsächlich von dem türkisen Mann für schwierige Fälle, dem ehemaligen Generalsekretär im Finanzministerium und dann Chef der Verstaatlichtenholding Öbag, Thomas Schmid, haben das verändert. Die ungenierte Tonlage ("Du bist die Hure der Reichen", wenn es um Gefälligkeiten für Unternehmer mit Steuerproblemen ging), die massiven Hinweise auf üble politische Deals, die Erzeugung von getürkten Umfragen mit Steuergeld zur höheren Ehre des Sebastian Kurz – das war nun dokumentiert.

Untersuchungsausschüsse

Damit konnte und kann die ÖVP bis heute nicht wirklich umgehen. In den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, deren einer tatsächlich "Untersuchungsausschuss betreffend Klärung von Korruptionsvorwürfen gegen ÖVP-Regierungsmitglieder (ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss)" heißt, konzentrierte sich die ÖVP unter heftiger Mitwirkung des Vorsitzenden Parlamentspräsidenten Wolfgang Sobotka auf Obstruktion, Vernebelung, Zeitschinden etc.

Die andere Möglichkeit wäre – für Nehammer – gewesen, die Probleme offen zuzugeben, interne Reformen anzukündigen und gleichzeitig die Situation für eine personelle Erneuerung seiner Mannschaft zu nutzen. Und zwar auch jene Personen zu ersetzen, die durch Korruptionsvorwürfe nicht unbedingt direkt betroffen sind, aber sich als Schwachstellen erwiesen haben.

Einige davon, wie die Landwirtschafts- und Tourismusministerin Elisabeth Köstinger und die Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck, sind von selbst gegangen, allerdings zu spät. Und andere sitzen noch in den Ämtern und vermitteln alles andere als Kompetenz.

Gigantisches Blendwerk

Die Corona-Politik hat schon Sebastian Kurz nach anfänglichen Erfolgen versemmelt, indem er die Pandemie im Sommer 2021 für beendet erklärte, nur um einen neuen massiven Anstieg der Infektionen im Herbst und Winter zu erleben.

Die Desillusionierung mit der Corona-Politik hat mindestens so sehr wie die Inseratenaffäre zu Kurz’ Ablöse beigetragen – die Bevölkerung und die maßgeblichen Leute der ÖVP begannen zu begreifen, dass sie einem Blender aufgesessen waren. Heute kommt noch heraus, dass die zentrale Errungenschaft von Türkis-Blau, die Zusammenlegung der Krankenkassen mit einer imaginären "Patientenmilliarde" als Einsparung, nur ein gigantisches Blendwerk war.

Kurz stürzte, weil die Grünen in Gestalt von Vizekanzler Werner Kogler mit ihm nicht mehr weiter zusammenarbeiten wollten. Aber das stieß nicht auf massiven Widerstand, sondern eher auf stille Unterstützung wichtiger ÖVP-Landeshauptleute. Sie hatten erkannt, dass er und seine Beratertruppe nicht viel mehr können als Inszenierung.

Er hatte die ÖVP mit der Kraft der Inszenierung aus dem 22-Prozent-Tief der Mitterlehner-Obmannschaft geholt und zu lichten Höhen geführt. Dafür war man ihm lange dankbar. Aber so viel Realismus haben die ÖVP-Granden schon noch immer, dass sie sehen, wenn es einer nicht (mehr) bringt.

Beschädigte Reputation

Vor dieser Situation steht jetzt Nehammer. Seine Reputation wird noch dazu durch unangemessenes persönliches Verhalten beschädigt – seine schlechten Witze vor ÖVP-Publikum über zu viele Viren am Parteitag oder über Alkohol und Psychopharmaka. Und das schlechte Management der Affäre um die Personenschützer, die sich in seiner Wohnung angesoffen haben.

Finanzminister Magnus Brunner wird inzwischen als Gegenbeispiel genannt – ein nüchterner, ruhiger Vorarlberger, der überdies Transparenzmaßnahmen gesetzt hat: Er ließ die Akten über die getürkten Umfragen ("Beinschab-Tool") in seinem Haus veröffentlichen, und er legt alle Corona-Finanzhilfen über 10.000 Euro offen.

Partei wird gebraucht

Es gibt eine ziemlich verbreitete Meinung, dass die ÖVP zu lange an der Regierung gewesen sei – entweder mit Kanzler oder Vizekanzler seit 1986. Als Alternativen werden eine "Ampel" aus Rot-Grün-Pink (Neos) und eine Neuauflage der Großen Koalition mit der ÖVP in der Position des Zweiten genannt.

Manche ÖVP-Granden würden so etwas akzeptieren, sogar ohne vorherige Wahlen. Entsprechende Sondierungen wurden aber von der SPÖ-Spitze mit "Nicht ohne Wahlen" abgelehnt. Dann gibt es noch angesichts eines möglichen Krisenwinters die Option einer Regierung der nationalen Einheit (alle außer FPÖ).

Aber ob die ÖVP jetzt in einer Regierung ist oder nicht – eine gemäßigte konservative Partei mit staatstragendem Anspruch ist jederzeit einem Gemisch von rechten, nationalpopulistischen, im Grunde regierungsunfähigen und antidemokratischen Irrlichterparteien vorzuziehen. Die Österreichische Volkspartei müsste allerdings zuerst wieder zu so einer Partei werden. (Hans Rauscher, 30.7.2022)