Silvio Berlusconi – vor wenigen Monaten noch im Krankenhaus und auch politisch totgesagt – ist wieder da. "1000 Euro Mindestrente für alle!", verspricht er vollmundig im Wahlkampf, der seit dem Rücktritt von Premier Mario Draghi auf Hochtouren läuft. 1000 Euro – das entspräche fast einer Verdoppelung des bisherigen Betrags. "Jedes Jahr eine Million Bäume pflanzen!", legt der 85-Jährige nach, plötzlich hat auch er den Klimawandel entdeckt. Und natürlich fehlt sein Evergreen nicht: "Kampf gegen Steuern und Bürokratie!"

Er hat noch nicht genug – hat aber Italien genug von ihm? Silvio Berlusconi, bald 86, geht wieder auf Wahlkampftour.
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Dass der wegen Steuerbetrugs vorbestrafte Multimilliardär, der Italien mit seinen Bunga-Bunga-Partys weltweit zum Gespött machte und das Land 2011 an den Rand der Zahlungsunfähigkeit führte, immer noch mitmischt: Das ist bizarr, sagt aber viel aus über Italiens politische Psyche. Das Problem ist nicht Berlusconi – das Problem sind die fehlenden Alternativen. Denn wen sollen die bürgerlichen Italiener sonst wählen? Etwa die aggressiv fremdenfeindliche Lega von Putin-Verehrer Matteo Salvini, der für alle Übel Italiens die Migranten, Brüssel und den Euro verantwortlich macht? Oder die postfaschistischen Fratelli d’Italia, für deren Führerin Giorgia Meloni Donald Trump, Viktor Orbán und die spanische Vox Vorbilder sind? Oder gar die Gruppe mit dem programmatischen Namen Italexit?

Heimatlose Bürgerliche

Genau hier liegt das Problem: Das bürgerlich-gemäßigte Lager hat mit dem Untergang der einst übermächtigen Democrazia Cristiana (DC) zu Beginn der 1990er-Jahre die politische Heimat verloren. Die große Volkspartei hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fast 50 Jahre lang regiert. Ja, sie war korrupt. Ja, es gab Mafia-Skandale zuhauf. Aber die Partei verfügte über ein fast unerschöpfliches Reservoir an kompetenten Politikern, die das Wohl des Landes – bei all den dunklen Seiten der Partei – nie ganz aus den Augen verloren. Unter der DC erlebte Italien ein Wirtschaftswunder und stieg in den Kreis der größten Industrienationen der Welt auf.

In das politische Vakuum – verursacht durch die Aufdeckung eben jener korrupten Machenschaften der DC ab 1992 – stieß der Baulöwe und TV-Tycoon Berlusconi. Er verbündete sich mit der separatistischen, fremdenfeindlichen Lega Nord von Umberto Bossi und machte auch die Postfaschisten von Gianfranco Fini regierungsfähig. Gleichzeitig erstickte er jeden Versuch zur Gründung einer erneuerten bürgerlichen, proeuropäischen Mitte-rechts-Partei. Eine solche Kraft fehlt im politischen Angebot Italiens seit nunmehr 30 Jahren.

Dilemma der Linken

Viel einfacher haben es auch die links Orientierten nicht. Ihre Parteien stellten zwar immer wieder respektable Ministerpräsidenten – Romano Prodi, Giuliano Amato, Enrico Letta, Paolo Gentiloni –, aber ihre Regierungen scheitern im strukturell konservativen Italien allzu oft an inneren Widersprüchen: Sie kommen einerseits aus dem sozialen Flügel der katholischen Welt, andererseits aus der früheren, antikirchlichen kommunistischen Partei (PCI).

Hinzu kommt ein dysfunktionales Wahlsystem. Die Abschaffung der Vorzugsstimmen in den 1990er-Jahren hatte zur Folge, dass es heute statt der Wählerschaft die Parteichefs sind, die bestimmen, wer ins Parlament einzieht. Und die Parteichefs suchen sich meist nicht die Fähigsten aus, sondern die für sie Nützlichsten: Freunde, Wasserträger, Jasager.

Berlusconi trieb es dabei wie immer auf die Spitze: In seiner Forza Italia wurde einer seiner Strafverteidiger Verteidigungsminister; der Buchhalter seiner Holding Finanzminister; eine Schönheitskönigin Ministerin für Gleichstellung.

Für die Abschaffung des Vorzugsstimmensystems gab und gibt es gute Gründe, hatte es doch zu DC-Zeiten in großem Stil zu Stimmenkauf – etwa durch die Mafia – geführt: ein ungelöstes Problem.

Trio infernale? Der konservative Expremier Silvio Berlusconi, die Chefin der Postfaschisten Giorgia Meloni und der Lega-Vorsitzende Matteo Salvini rechnen sich Chancen aus (v.li.)
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Die Kombination aus dem dürftigen politischen Angebot und dem Systemfehler im Wahlgesetz blieb nicht ohne Folgen: Sowohl die populistische Rechte als auch die zerstrittene Linke haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten als weitgehend unfähig erwiesen, die vielen gravierenden Probleme des Landes zu lösen. So gilt Italien als das einzige Land in der EU, in dem die Reallöhne seit 1995 gesunken sind.

Die Folge: In keinem anderen Land der Union ist das Ansehen der Politiker so gering wie in Italien. Nur zehn Prozent der Befragten zeigen Vertrauen in die Parteien. "Nichtsnutze und Diebe!", hört man in allen Bars und auf jeder Piazza von Turin bis Palermo, wenn von den politisch Verantwortlichen die Rede ist.

Weg frei für die Sterne

Das Versagen der traditionellen Parteien, die Wut und der Frust der Bevölkerung über die immer maroder werdende Infrastruktur, die dramatisch miese Qualität der meisten staatlichen Dienstleistungen trotz hoher Steuerbelastung, die Privilegien und der feiste Lebensstil vieler Politiker: Das waren beste Voraussetzungen für den epochalen Wahlsieg der Fünf-Sterne-Bewegung im März 2018.

Diese Anti-System-Partei, die mit dem Versprechen angetreten war, die parasitäre Politiker-Kaste hinwegzufegen, wurde mit 32 Prozent stärkste Partei. Im armen Süden, wo die soziale Not, die Perspektivenlosigkeit und die Abwanderung der Jungen am meisten ausgeprägt sind, betrug ihr Stimmenanteil oft mehr als 50, da und dort sogar 70 Prozent.

Nun sind die "Grillini" – der Spitzname weist auf deren Gründer, den wortgewaltigen Satiriker Beppe Grillo hin – selbst zu einem Teil der verhassten Kaste geworden. Die Bewegung, die geschworen hatte, sich niemals auf Koalitionen mit anderen Parteien einzulassen, hat sich aus Machthunger zuerst mit der rechtsradikalen Lega, dann mit dem sozialdemokratischen PD und schließlich auch noch mit Ex-EZB-Chef Draghi verbündet. Praktisch alle Wahlversprechen wurden gebrochen, hinzu kamen die Unerfahrenheit und Inkompetenz vieler ihrer Vertreter: eine herbe Enttäuschung für die Wählerinnen und Wähler.

Verkalkuliert? Expremier Giuseppe Conte steht unter Druck, seine Anhängerschaft wird immer kleiner.
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Vorwürfe gegen Salvini

Nun also wieder Wahlkampf, und sofort sieht sich Lega-Chef Salvini mit einem schwerwiegenden Vorwurf konfrontiert: Ein Funktionär der russischen Botschaft in Rom soll sich vor zwei Monaten bei Salvinis außenpolitischem Berater erkundigt haben, ob denn die Lega die Regierung Draghi stürzen könnte – etwa mit Ministerrücktritten. Die Turiner La Stampa beruft sich in ihrem Bericht auf Geheimdienstdokumente. Die Sozialdemokraten forderten umgehend einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Salvini – dessen Lega im Verdacht steht, zeitweise heimlich vom Kreml finanziert worden zu sein – spricht von "Blödsinn" und "Fake News".

All diese Auswüchse werden wohl dazu führen, dass viele Wählerinnen und Wähler bei den kommenden Wahlen am 25. September Denkzettel verteilen werden. Und viele werden ganz einfach nicht mehr an die Urnen gehen.

"Ich werde am 25. September nicht wählen gehen, es ist sinnlos", sagt etwa Sergio Palazzo, ein Badestrandbetreiber südlich von Rom, der mit seinem Team in der Saison sieben Tage die Woche durcharbeitet. Aber entmutigen lässt er sich der 60-Jährige nicht, wie auch Millionen von Italienerinnen und Italiener nicht: Sie sind es, die mit ihrer harten Arbeit, einer gesunden Portion Fatalismus, mit Lebensmut und Kreativität das Land trotz allem über Wasser halten. Das werden sie auch weiterhin tun – egal, wie die Wahlen in zwei Monaten ausgehen. (ANALYSE: Dominik Straub aus Rom, 30.7.2022)