Bis zuletzt war völlig offen, wann die ersten mit Getreide beladenen Schiffe ukrainische Häfen verlassen würden. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte die Wiederaufnahme der Exporte zwar für Freitag oder Samstag angekündigt – tatsächlich entwickelte sich aber eine Zitterpartie von globaler Bedeutung.

Die Ukraine sowie viele Abnehmerländer vor allem in Afrika sind auf die Getreidetransporte über das Schwarze Meer fundamental angewiesen.
REUTERS/ VINCENT MUNDY

Die Umsetzung eines erst vor einer Woche ausgehandelten Abkommens über das Ende der russischen Hafenblockade stand bereits einen Tag später, am vergangenen Samstag, wieder auf der Kippe, als Russland den Hafen von Odessa bombardierte – laut eigener Aussage, um militärische Ziele zu treffen.

Zahlreiche Sicherheitsrisiken

Und auch jetzt noch, Tage später, sind es diese Raketenschläge, die einen raschen Start der Exporte fraglich machen. "Reedereien und Versicherungsunternehmen sind besorgt, weil sie keine zuverlässigen Sicherheitsgarantien erhalten haben", zitierte die Associated Press den Analysten Oleksiy Melnyk vom Kiewer Rasumkow-Zentrum.

Auch wenn mittlerweile Versicherungsverträge mit dem Londoner Unternehmen Lloyd’s bestehen: Das Sicherheitsproblem ist nicht aus der Welt und könnte die Umsetzung des Abkommens weiter behindern. Neben der Angst vor russischen Raketen spielen auch die genauen Transportrouten eine Rolle. Die Gewässer des Schwarzen Meeres sind vermint, ohne Garantie sicherer Korridore ist die Navigation hochriskant.

30 Prozent Inflation drohen

Trotzdem ist die rasche Wiederaufnahme der Ausfuhr für die Ukraine alternativlos – auch wegen der hohen Inflation im Land, die laut Nationalbank bis Jahresende auf 30 Prozent ansteigen könnte. "Das Aufheben der Blockade wird die Devisenzufuhr erhöhen", so die Direktorin des ukrainischen Agrarforums, Maria Diduch, "das könnte das Tempo der Teuerung bremsen."

Indes kündigte Außenminister Dmitri Kuleba eine Reise in mehrere zentralafrikanische Staaten an. Die Länder des Kontinents gehören zu den wichtigsten Abnehmern ukrainischen Getreides.

Nicht nur an den Häfen der ukrainischen Schwarzmeerküste ist die Lage zunehmend angespannt. Die russische Armee bereitet sich augenscheinlich auf eine ukrainische Gegenoffensive im Süden des Landes vor und verlegt seit Tagen in großem Umfang Streitkräfte in die Oblaste (Gebiete) Cherson und Saporischschja.

Schwere Kämpfe wohl bis September

Aus Kiew hieß es bereits Mitte des Monats, man wolle die russische Armee vor allem im Süden zurückzudrängen. Am Donnerstag vermeldete man schließlich die Befreiung dreier Siedlungen in der Oblast Cherson. Außerdem beschädigten ukrainische Raktenangriffe für die Versorgung der russischen Truppen wichtige Infrastruktur, wie etwa die mittlerweile unbenutzbare Antoniwka-Brücke über den Dnipro. Schon bald dürften die Kampfhandlungen weiter zunehmen.

"Bis Mitte September erlauben die Wetterverhältnisse eine aktive Gegenoffensive. Dann beginnt für gewöhnlich eine Regenperiode, in der nur feste Straßen nutzbar sind. In Feldern bleibt die Technik hängen, aktive Kampfhandlungen kann man dann nicht ausführen", meint etwa der Militärexperte Wladislaw Selesnow in einem Interview. Zuvor hatte Präsident Selenskyj angekündigt, die nächsten drei bis sechs Wochen würden über den Erfolg des ukrainischen Gegenschlages entscheiden.

Dutzende Tote in der Oblast Donezk

Möglicherweise auch in Erwartung intensiver Kämpfe im Süden verschärfte Russland seine Raketenangriffe auf Regionen hinter der Front. Zum ersten Mal seit langem wurde die Hauptstadt Kiew beschossen, 15 Menschen wurden verletzt. Aus der südukrainischen Stadt Mykolajiw wurden mindestens fünf Tote durch russischen Beschuss gemeldet.

Am Freitag meldeten russische Medien ihrerseits, dass Dutzende Insassen eines Gefängnisses in der besetzten Region Donezk durch ukrainischen Beschuss umgekommen seien. Kiew streitet dies ab und macht Russland für den Angriff verantwortlich. Bei den Toten handelt es sich wohl um ukrainische Kriegsgefangene. Bereits zuvor hatte Präsident Selenskyj gefordert, Russland in die Liste der den Terrorismus unterstützenden Staaten aufzunehmen. (Thomas Fritz Maier, 30.7.2022)