Im Gastkommentar widmet sich Stefan Lehne von Carnegie Europe der psychologischen Dimension des Konfliktes.

Ein Bild von einer Demonstration für härtere Sanktionen gegen Russland in der polnischen Hauptstadt Warschau. In Westeuropa jedoch wird die Zustimmung zur Sanktionspolitik bereits auf die Probe gestellt.
Foto: EPA/Radek Pietruszka

Die psychologische Dimension des Ukraine-Krieges könnte sich als entscheidend herausstellen. Hat der Westen die Ausdauer, die Unterstützung der Ukraine und die Sanktionspolitik konsequent fortzusetzen, oder kann der russische Präsident Wladimir Putin mit der Energiewaffe die westliche Solidarität mit der Ukraine entscheidend schwächen?

Aufgrund des entschlossenen Widerstands der Ukraine und der westlichen Waffenlieferungen wird es Russland vermutlich nicht möglich sein, weitere große Gebiete des Landes zu besetzen. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass die ukrainischen Streitkräfte das russische Militär völlig aus dem Lande vertreiben können. Wenn beide Seiten ihre Kräfte erschöpft haben, dürfte der Krieg in einem militärischen Patt münden. Wann dieser Zeitpunkt erreicht wird und ob es dann möglich sein wird, eine für die Ukraine akzeptable Verhandlungslösung zu erzielen, wird wesentlich vom weiteren Verlauf des Wirtschaftskriegs zwischen dem Westen und Russland abhängen.

Wie Putin eingestanden hat, sind die Auswirkungen der westlichen Sanktionen schon heute gravierend. Teile der industriellen Produktion sind eingebrochen, darunter auch die Herstellung hochwertiger Waffen, die für den Krieg in der Ukraine dringend gebraucht werden. Was Marktmacht, Technologie und Einfluss über das internationale Finanzsystem anbelangt, ist der Westen Russland, dessen Bruttonationalprodukt kaum höher ist als das Spaniens, weit überlegen.

Psychologische Dimension

Nur im Energiebereich kann sich Russland wirksam zur Wehr setzen. Putins schärfste Waffe ist die Drohung mit der Einstellung der Gasexporte nach Westeuropa, die eine Reihe von EU-Staaten in die Rezession stürzen würde. Auch wenn ein völliges Gasembargo nicht sehr wahrscheinlich ist, da es für russisches Gas nur beschränkte alternative Exportmöglichkeiten gibt, wird Putin auch weiterhin versuchen, durch Lieferkürzungen, die den Gas- und Strompreis hinaufschrauben, sowie durch die Drohung mit dem völligen Gasstopp die westeuropäische Öffentlichkeit zu verunsichern und die Unterstützung für die Ukraine zu untergraben.

Und dies führt zur dritten, der psychologischen Dimension des Konfliktes.

Unablässige Propaganda

Was Widerstandsfähigkeit anbelangt, könnte sich Russland als starker Gegner erweisen. Das Regime kontrolliert die Informationsströme. Durch den Verzicht auf die Mobilisierung und die Unterdrückung der Opferzahlen bleibt die Öffentlichkeit im Dunkeln über die wahren Kosten des Krieges. Die unablässige Propaganda, die dem Westen die Schuld an allen Problemen zuweist, findet bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung Zustimmung. Der Rest schweigt, da jeder Protest rücksichtslos unterdrückt wird. Auch hat die russische Gesellschaft viel Erfahrung darin, mit wirtschaftlich schwierigen Zeiten zurande zu kommen.

Das alles bedeutet nicht, dass Putin die Auswirkungen der Sanktionen auf die leichte Schulter nehmen kann. Das Auswandern von zehntausenden gut ausgebildeten jungen Menschen muss dem Kreml Sorgen bereiten. Und ein andauernder wirtschaftlicher Niedergang wird irgendwann die Stabilität des Regimes infrage stellen.

Populismus und Inflation

Das ist aber nur eine längerfristige Perspektive. In Westeuropa dagegen wird die Zustimmung zur Sanktionspolitik schon heute auf die Probe gestellt. Der Schock über die brutale Aggression ist Kriegsmüdigkeit gewichen. Die vielen Forderungen Kyivs irritieren. Populistische Politiker relativieren die Verantwortung für die Kriegsgräuel und machen westliche Sanktionen für Inflation und Energienotstand verantwortlich, obwohl der Ukraine-Krieg nur eine von mehreren Ursachen für diese Entwicklungen ist. Die ursprüngliche Solidarität mit der sich energisch zu Wehr setzenden Ukraine ist in breiten Teilen der Bevölkerung noch vorhanden, aber die Stimmung könnte bald kippen. Die Furcht vor einem kalten Winter, vor Wirtschaftseinbruch und Geldentwertung tritt immer mehr in den Vordergrund und verdrängt das Verständnis dafür, dass es in der Ukraine um die Stabilität Europas und damit auch um die eigene Sicherheit geht.

Paradoxe Lage

Die gegenwärtige Lage ist paradox. Wahrscheinlich verfügt der Westen über die Fähigkeit, durch entschlossene militärische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine und konsequente Umsetzung der Sanktionen die Ukraine als lebensfähigen Staat zu erhalten und der imperialistischen Expansionspolitik Putins klare Grenzen aufzuzeigen. Dies setzt allerdings erhebliches Durchhaltevermögen voraus, eine Tugend, die in den offenen Gesellschaften Westeuropas nicht selbstverständlich ist.

Putin rechnet damit, den Willen des von ihm als dekadent verachteten Westens mit dem Energiehebel brechen zu können. Er darf nicht recht behalten. In der Geschichte haben sich Demokratien immer wieder als widerstandsfähig und autoritären Herausforderungen gewachsen erwiesen. Dies gelingt aber nur durch Engagement, Glaubwürdigkeit und mit viel Überzeugungsarbeit durch Regierungen und Zivilgesellschaft. (Stefan Lehne, 1.8.2022)