Russland und die USA verfügen über mehr als 90 Prozent der nuklearen Sprengköpfe. Die meisten davon können eine größere Zerstörung anrichten als die Bombe, die 1945 die japanische Stadt Hiroshima traf.

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Es ist ein kleines Jubiläum, die Stimmung aber ist düster: Während in New York am Montag die zehnte Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags startet, führt Nuklearmacht Russland unbeirrt Krieg gegen die Ukraine. Der Vertrag bildet das Fundament der globalen nuklearen Ordnung und soll helfen, Atomkriege zu vermeiden. Doch Russlands Feldzug, den Präsident Wladimir Putin mit nuklearen Drohungen absichert, rückt die Welt näher an diesen Abgrund. "Die Aussicht auf einen Nuklearkonflikt, die einst undenkbar war, ist nun wieder in den Bereich des Möglichen gerückt", warnt UN-Generalsekretär António Guterres.

Zwar schätzen die meisten Militär- und Politikexperten die Wahrscheinlichkeit, dass Putin die apokalyptischen Kriegsgeräte tatsächlich einsetzt, als gering ein. Aber kaum ein Fachmann oder eine Fachfrau schließt das Horrorszenario völlig aus, wie eine Auswertung im Bulletin of the Atomic Scientists zeigt.

Pessimistische Voraussagen

Sigfried Hecker, früherer Direktor des Los Alamos National Laboratory, befürchtet sogar den Einsturz der gesamten nuklearen Ordnung und damit des Atomwaffensperrvertrags.Das mag zu pessimistisch sein. Fest steht aber: Putin fügt dem Atomwaffensperrvertrag, auch Nichtverbreitungsvertrag (englische Abkürzung: NPT) genannt, schweren Schaden zu. Das sehen auch die politisch Verantwortlichen in den USA – das Land ist einer der großen Nutznießer des NPT. Die US-Regierung zielt laut Außenminister Antony Blinken bei der Überprüfungskonferenz deshalb darauf ab, "diesen wichtigen Vertrag zu erhalten und zu stärken". Diplomaten befürchten jedoch, dass Russlands blutiger Neoimperialismus die vierwöchige Konferenz lähmen könnte: "Wenn überhaupt, wird es nur magere Ergebnisse geben", prognostiziert ein Unterhändler.

Der NPT trat 1970 in Kraft. Der Pakt mit heute mehr als 190 Vertragsstaaten basiert auf einem einseitigen Tauschgeschäft: Er erlaubt nur fünf Staaten, nukleare Sprengköpfe zu besitzen (USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien). Alle anderen Länder dürfen aber die Atomkraft friedlich nutzen. Dafür verpflichten sich die offiziellen Atomwaffenmächte wiederum zur "allgemeinen und vollständigen Abrüstung". Doch von einer kompletten Abrüstung wollen die Nuklearmächte nichts wissen. Ihnen kommt zugute, dass es keinen Zeitrahmen für die Verschrottung gibt.

Die beiden größten Atommächte USA und Russland horten laut Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri über 90 Prozent der rund 12.700 nuklearen Sprengköpfe. Allein das US-Programm zur Modernisierung und Wartung der Kernwaffen wird nach Schätzungen des Congressional Budget Office in den nächsten drei Jahrzehnten 1,2 Billionen US-Dollar verschlingen.

Trend zur Aufrüstung

"Alle nuklear bewaffneten Staaten vergrößern oder modernisieren ihre Arsenale, und die meisten verschärfen ihre nukleare Rhetorik und die Rolle, die Atomwaffen in ihren militärischen Strategien spielen", sagt Wilfred Wan, Direktor des Sipri-Programms für Massenvernichtungswaffen. Putins Krieg verschärft den Trend zur Aufrüstung.

Und solange Putin an den Schalthebeln sitzt, ist an neue Verhandlungen zwischen Washington und Moskau über Rüstungskontrollverträge nicht zu denken. Auch Gespräche mit China scheinen unrealistisch: Der nationale Sicherheitsberater Großbritanniens, Stephen Lovegrove, warnt laut Daily Telegraph vor Chinas "Verachtung" von Abkommen zur Beschränkung oder Abbau der Waffen. Der Westen und China könnten sich "verkalkulieren" und in einen Atomkrieg stolpern.

Ebenso dürften die vier "nichtoffiziellen" Atomwaffenmächte angesichts der waghalsigen russischen Nuklearmanöver ihre Bestände ausweiten – Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea erachten den Einsatz ihrer nuklearen Sprengköpfe ohnehin als eine strategische Option.

Darüber hinaus verfolgen auch jene Staaten den Krieg in der Ukraine ganz genau, die selbst nukleare Ambitionen hegen: besonders der Iran. Kaum verwunderlich, dass die Verhandlungen zur Eindämmung des Teheraner Atomprogramms sich quälend hinziehen. Putins Krieg, flankiert mit nuklearer Erpressung, macht somit auch die Hoffnung auf ein Ende der Atomwaffenverbreitung zunichte. Genau das aber sollte der Atomwaffensperrvertrag auch erreichen. (Jan Dirk Herbermann, 1.8.2022)