Ihre Stimme war hell, ihre Sprache immer präzise, denn sie wusste, wovon sie sprach. Sie redete schnell und oft auch mit einem guten Schmäh. Sie war voller Energie. In den letzten Wochen mischte sich immer mehr Angst und Verzweiflung in diese Stimme. Die Geschichte von Lisa-Maria Kellermayr ist keine gewöhnliche Geschichte aus dem journalistischen Alltag. Nach regem Kontakt, den wir bis zuletzt mit ihr hatten, ist ihre Stimme verstummt.

Schlüsselerlebnis

Für Lisa-Maria Kellermayr war die Medizin nicht nur Beruf, sondern – im Wortsinn – eine Berufung. Als Jugendliche ist es für sie undenkbar, Ärztin zu werden – sie kann kein Blut sehen. Doch im Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein glänzt Kellermayr so, dass ihr geraten wird, sich zur Rettungssanitäterin ausbilden zu lassen – im Maturajahr. Am 16. Februar 2003 hat sie ihr Schlüsselerlebnis. Ihr Team kommt in eine Kirche, eine ältere Frau ist zusammengebrochen. Herz-Kreislauf-Stillstand, die Chancen stehen schlecht. Die Orgel spielt während der Wiederbelebung. "Die Patientin hat wirklich die Engel singen hören", sagt Kellermayr. Sie schickt ein Stoßgebet an Gott: "Wenn du willst, dass ich das hier weitermache, musst du das hier gut ausgehen lassen." Die Patientin überlebt. Kellermayr denkt: "Das will ich wieder!"

Glaube

Kellermayr war gläubig. Mit Anfang 20 nahm sie in St. Ruprecht einige Jahre an Gebeten im Stil der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé teil. Sie half auch aktiv bei der Organisation eines Pilgertreffens in Wien. "Sie hat sich immer sehr stark für Menschen eingesetzt", erinnert sich ein Mitstreiter von damals.

"Ich habe mir nie den Mund verbieten lassen", sagte Ärztin Lisa-Maria Kellermayr über ihre Kindheit.
Foto: APA/HERMANN WAKOLBINGER

Die junge Frau aus Wels beginnt Medizin zu studieren, zuerst in Graz, dann in Wien. Ihr Leben finanziert sie sich weitgehend selbst durch einen Job in einem Callcenter. Nach der Uni beginnt sie in einer Reha-Klinik in Bad Ischl zu arbeiten. Nebenbei pflegt sie ihr "ausgefallenes Hobby": Sie ist Fan von Klaas Heufer-Umlauf und seiner Show mit Joko Winterscheidt. In der Küche ihrer Ordination hat sie später Fotos und Autogramme gepinnt.

Anfang 2020 fährt sie nach München, um bei den TV-Aufzeichnungen der Shows von Joko und Klaas dabei zu sein. Damals gibt es erste Covid-Fälle in Österreich. Während sie auf den Einlass ins Studio wartet, hört sie im Podcast von Heufer-Umlauf vom Podcast des Virologen Christian Drosten. "Ich habe alles aufgesogen", sagte Kellermayr. Sie liest sich immer weiter ein, tauscht sich mit Kollegen aus, vernetzt sich.

Als die Ärztekammer Freiwillige sucht, um Infizierte der ersten Welle zu betreuen, meldet sie sich. Singles ohne Betreuungspflichten müssten "an die vorderste Front", sagt sie. Im März 2020 ging sie in den hausärztlichen Notdienst, arbeitet monatelang in der Pandemiebekämpfung. Ohne Berührungsängste ging sie zu tausenden Patientinnen und Patienten nach Hause.

Lebensretterin

Sie rettet viele Leben und bemerkt, dass das Asthmamedikament Budenosid schwere Verläufe und so Spitalseinweisungen verhindert. Diese Erfahrung teilt sie Ende Oktober 2020 bei einer Online-Bezirksärztefortbildung. Ein Video dazu wird damals auf Youtube über 3000-mal angesehen, Kollegen und Kolleginnen diverser Fachrichtungen aus dem ganzen Bundesgebiet melden sich bei Kellermayr.

Doch öffentlich wird das kaum wahrgenommen. Als der heutige deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach fünf Monate später über dasselbe Medikament auf Twitter schreibt und im April 2021 eine an nur 73 Menschen erprobte Cambridge-Studie dazu erscheint, schlägt das weltweit Wellen. Kellermayr hat da gerade ihre Praxis in Seewalchen am Attersee eröffnet. Auf Twitter fragt sie, warum erst jetzt das Mittel in aller Munde sei: "Liegt es daran, dass ich a) eine Frau bin, b) jung bin, c) ‚nur‘ eine Allgemeinmedizinerin bin, d) alle Antworten sind richtig?"

Spätestens jetzt wurde Kellermayr als Fachfrau von der Pandemiefront immer häufiger von Medien befragt. Sie empfiehlt auch die Impfungen. Rechtsextreme Corona-Leugner schießen sich auf sie ein.

Als sie im November 2021 eine Demo vor dem Klinikum in Wels auf Twitter kritisiert, antwortet die Landespolizeidirektion Oberösterreich auf Twitter und spricht von einer "Falschmeldung".

Verabredeter Terror

Ab da fallen virtuell verabredete Gruppen mit ihrem Terror über die junge Ärztin her. Morddrohungen bekam sie schon früher, nun sind sie häufiger, brutaler, konkreter.

In ihrer Ordination lässt die Ärztin Sicherheitsvorkehrungen einbauen, die rund 100.000 Euro kosten. Sie schafft das finanziell nicht mehr, und sie hat große Angst, auch um ihre Mitarbeiterinnen. Sie engagiert einen privaten Security-Mann, der immer wieder Praxisbesuchern Butterflymesser abnimmt.

Seit Freitag stellen betroffene und trauende Menschen Kerzen für Kellermayr am Stubenring vor dem Gesundheits- und Sozialministerium auf.
Foto: Robert Newald

Ende Juni schließt Kellermayr ihre geliebte Ordination. Sie holt sich psychologische Hilfe. Sie wendet sich verzweifelt an die Öffentlichkeit, fordert Polizeischutz.

Die Landespolizeidirektion Oberösterreich und die Ärztekammer richten ihr aus, sie solle sich doch öffentlich zurückhalten. Die Polizei sagt zudem noch im Juni, einen Mann, der droht, ein Massaker in der Ordination anzurichten, nicht ausforschen zu können, weil seine Botschaften "aus dem Darknet" kämen. Eine IT-Spezialistin, die Kellermayr auf Twitter Hilfe anbot, gab an – ganz ohne Darknet – binnen weniger Stunden auf legalen Wegen Spuren im Netz gefunden zu haben, die zu einem Neonazi im Berliner Raum führten. Auch zwei STANDARD-Redakteure führte eine relativ kurze Suche zu einschlägigen Gruppen.

Ebenso leicht war ein Mann aus Oberbayern zu enttarnen, der ihr ein "Volkstribunal" androhte.

Das letzte Gespräch

Kellermayr erinnerte am 28. Juli daran, dass Politiker bei ihren Rücktritten die Drohungen gegen sie hervorgehoben hatten. Sie fand, der Staat müsse alle bedrohten Bürger beschützen. "Was mir passieren kann, das kann jedem Bürger passieren, der kein Promi ist oder über besondere Verbindungen verfügt." Es war ihr letztes Gespräch mit dem STANDARD.

Gehört fühlte sie sich spät vom neuen Leiter der Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst, Omar Haijawi-Pirchner. Doch die Bedrohung blieb bis zuletzt. Im Lift vor dem Gebäude der Praxis fehlte plötzlich der Aufkleber, der zur Ordination wies. Kellermayr schickte dem STANDARD ein Foto und schrieb: "Die einzige ‚Beschilderung‘, die uneinsichtig war und ohne Kameras, war diese im Aufzug."

Bis vor wenigen Wochen schöpfte Kellermayr immer wieder kurz Hoffnung, wenn man Szenarien aufzeigte, wie sie Schulden zahlen könnte – etwa ein Crowdfunding.

Anonyme Hetzer sind gefährlich, viele von ihnen gewaltbereit. Aber sie sind keine mutigen Leute. Sie verstecken sich oft hinter Profilen. Es bräuchte von Behörden wenig, um sie in ihre Schranken zu verweisen. Doch das Wenige ist nicht passiert.

Das nichtgelebte Leben

Lisa-Maria Kellermayr war gerade 36. Wie hätte dieses Leben weitergehen können? Sie hätte in ihrer Praxis noch vielen tausenden Menschen zuhören, Leid lindern und Krankheiten heilen können. Sie hätte mit ihrer Praxis Arbeitsplätze – auch im wirtschaftlichen Sinne – gesichert. Sie hätte Mädchen mit ihrem Mut zeigen können, dass es sich lohnt, zu kämpfen. Sie hätte in den Bergen wandern und noch öfter einen Halbmarathon laufen können. Sie hätte mit ihrer Hündin Fräulein am türkisen Attersee spazieren gehen können. Sie hätte, so hatte sie sich das ausgemalt, ihren künftigen Kindern und Enkelkindern erzählen können, was sie in der Pandemie gemacht hatte. Nichts von dem wird je passieren.

Lisa-Maria Kellermayr wurde am 29. Juli 2022 tot in ihrer Ordination aufgefunden. (Colette M. Schmidt, Oliver Das Gupta, 1.8.2022)