Tennisspieler Wotan (Egils Silins) und seine auch an Problemen reiche Familie.

Foto: Enrico Nawrath

Wer etwa, von den Salzburger Festspielen kommend, versucht, Bayreuth zu erreichen, hat dank der mittlerweile legendär perfekten Unberechenbarkeit der Deutschen Bahn die Möglichkeit, sich auf den Ring in Bayreuth einzustimmen. Wegen der erlittenen zeitlichen Ausdehnung der Reise durchlebt er eine ganz persönliche Tetralogie. Sie besteht aus "Verspätung", "Erwartung", "Verzweiflung" und "Erlösung". Sie ist natürlich nichts im Vergleich zu jener Wartezeit, die dieser neue Bayreuther Ring des Nibelungen und sein Regisseur Valentin Schwarz durchzuhalten hatten.

Der junge österreichische Musiktheaterdenker hat die Zeit – die Premiere war an sich für 2020 geplant – allerdings gut genutzt, um mutige Ideen zu schmieden. Während das Vorspiel in Es-Dur langsam und etwas schüchtern klingend zu sich findet, sieht man kurz eine filmische Darstellung von Wasser. Trügerische Ruhe verbreitet sich, dann Schnitt, zu sehen sind zwei Föten. Drastisch wird vorgeführt, dass der Erdenwurm seinem Gegenüber unheilbar und von Anbeginn an eher gewalttätig gegenübersteht.

Kleiner Junge

Die Zwillinge (es sollen Wotan und Alberich sein) schlafen selig im Fruchtwasser, bis sich zwischen beiden ein blutiger Kampf entspinnt. Sie verletzen einander, bluten, zermalmen die Nabelschnur des anderen und verschwinden schließlich. Wieder Schnitt, Vorhang hoch. Auf der Bühne planschen die Rheintöchter als Kindermädchen in einem Pool herum. In ihrer Obhut sind viele Mädchen und ein kleiner gelb gewandeter Junge.

Man ahnt hier schon: Es wird kein gegenständlich glitzerndes Rheingold, keinen Ring und auch keine Riesenwürmer oder Zwerge geben, die sich in Kröten verwandeln. Valentin Schwarz hat Richard Wagners Figurenwelt gleichsam humanisiert. Die Demütigung und Zurückweisung durch die Rheintöchter wird Alberich (imposant in der Intensität: Ólafur Sigurdarson) denn auch nicht als Zwerg vom Volk der Nibelungen erleiden. Er ist ein weißer alter Mann, ein abgewrackter Verwandter der reichen "Wotans". Er wird mit nassen Fetzen verdroschen und wälzt sich verzweifelt im Pool. Wegen der erlittenen Verhöhnung und Demütigung entführt er schließlich mit einer Pistole fummelnd den Knaben.

Szenenwechsel. In seinem schicken Anwesen (Bühnenbild von Andrea Cozzi) grübelt der leicht mafiöse Geschäftsmann Wotan, wie er nach dem schweißtreibenden Tennismatch die zwielichtigen Baumeister Fasolt (profund Jens-Erik Aasbø) und Fafner (tadellos Wilhelm Schwinghammer) entschädigen soll, ohne ihnen die zitternd dasitzende Freia zu überlassen. Der schlaue, exaltierte Loge (sehr stimmig: Daniel Kirch), der die Lösung bringen soll, ist dann bald vor Ort. Er ist eine Art findiger Strippenzieher und eitler Anwalt, der die ganze Welt im Handy hat – und auch jene Filmdokumente, welche die Entführung des kleinen kostbaren Jungen durch Alberich zeigen. Überwachung sei Dank. Das alles ist von Schwarz prägnant ausgestaltet, die Figuren sind individuell gezeichnet.

Farbe an der Wand

Aber Alberich? Ist er womöglich das schwarze Schaf der Familie? In jedem Fall ist er ein Serientäter. Er hat den entführten Jungen in seine Kinderkolonie gebracht, wo einige Mädchen in Gruppen unterrichtet werden und auch malen.

Ist das eine Schule der Gewalt oder eine perfide putzig getarnte Kinderhandelfarm? Der entführte Junge? Wird er in den nächsten Folgen der Ring-Serie zum Siegfried-Mörder Hagen heranwachsen, oder ist er mehr als Wotans entführter Goldjunge? Es darf gegrübelt werden. Der Junge neigt jedenfalls schon zur Gewalt. Er zerreißt die Bilder der malenden Mädchen, er verspritzt destruktiv Farbe auf die Wand. Längst scheint er traumatisiert und bereit, seine Probleme aggressiv an der Umwelt abzuarbeiten.

Das alles ist recht neu und ungewöhnlich erdacht. Blass und farblos wird Schwarz’ Ideenkonstrukt allerdings dort, wo bei Richard Wagner die gruselmärchenhaften Verwandlungen anstünden. Mit Fantasy ist da aber nichts.

Wenn Loge und Wotan Alberich in seiner Kinderkolonie überreden, seine Gestalt zu wechseln, geschieht nicht nichts, aber doch sehr wenig, um die Situation dramaturgisch aufzuladen. Auf den Schultern des bärtigen Entführers sitzend, fuchtelt der Knabe mit der Pistole, mit der er selbst bedroht wurde, Richtung Wotan und Loge herum. Selbst, wenn man die Verwandlung in den Lindwurm nicht vermisst, muss dies szenisch dann doch als etwas zu beiläufig empfunden werden.

Am Ende neuerlich Szenenwechsel, wir sind wieder in Wotans Domizil. Drinks werden serviert, Alberich wird drangsaliert, bis Wotan schließlich nachdenklich in eine weiß leuchtende Pyramide zu starren beginnt. Erda hat ihn (Okka von der Damerau wirkt hier auch als Freundin Freias) deutlich gewarnt, den Ring an sich zu reißen, der hier materiell nicht existiert.

Doch, ja, es gibt noch Hoffnung! Wagner-Musik, die vom hauseigenen Plattenspieler zu kommen scheint, hellt Wotans Stimmung vielleicht noch ein letztes Mal auf. In der Schlussphase dieses Rheingolds lässt sich der hier alles andere als göttliche Sorgeträger von der Musik euphorisieren. Er steigt die Treppe empor und tanzt noch einmal – imperial gestimmt – zur Musik.

Zuvor hat übrigens Erda ein blondes Mädchen in Sicherheit gebracht, es wird womöglich Sieglinde oder Brünnhilde? Mal sehen.

Flotte Gangart

Jedenfalls hat sich Wotans Gattin Fricka vorläufig beruhigt (packend, aber in den Nuancen etwas scharf timbrierend: Christa Mayer). Und auch die erleichterte Freia wiegt sich nun in Sicherheit (impulsiv, dramatisch: Elisabeth Teige). Dirigent Cornelius Meister (eingesprungen für Pietari Inkinen) gibt eine flotte Gangart vor, schafft nach und nach Steigerungen und intensive Zuspitzungen und wird bejubelt wie alle Stimmen – inklusive des kultiviert und präsent klingenden Egils Siliņš als Wotan. Zur Regie gab es einen Kampf zwischen Buhs und Bravos. So soll es sein, Fortsetzung folgt. Es bleibt spannend, was aus dem "Ringjungen" wird, den Fafner mitgenommen hat, nachdem er Bruder Fasolt in Wotans Garage erschlug.(Ljubisa Tošić, 1.8.2022)