Auf dem Gipfel des Mauna Kea, eines 4.000 Meter hohen Vulkans, tummeln sich einige der wichtigsten Teleskope. Die Studienautoren verwendeten das Subaru Telescope, im Bild ganz links.
Foto: Copyright 2019 The Associated Press. All rights reserved.

"Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht", heißt es in Brechts "Dreigroschenoper." Bei Berthold Brecht schwingt in fast jeder Zeile Sozialkritik mit, etwa auch in seinem lesenswerten Drama über Galileo Galilei, das sich leider seines missionarischen Anspruchs kaum erwehren kann. Er will auf die Vernachlässigten, Vergessenen aufmerksam machen. Im Fall der Astronomie verhilft aber gerade die Unsichtbarkeit einem rätselhaften Phänomen zu besonderer Aufmerksamkeit.

Die Rede ist von Dunkler Materie, dem Steckenpferd vieler Amateurphysiker (hier sind tatsächlich nur Männer gemeint), die das Konzept als Provokation empfinden und häufiger, als man glauben würde, Forschenden der Physik oder Astronomie in langen E-Mails mitteilen, warum die Gravitationstheorie angepasst werden müsse. (Ja, auch Wissenschaftsjournalisten bekommen solche Mails.)

Ein Rätsel als Segen

Dunkle Materie irritiert. Was für die einen ein Ärgernis ist, ist für die Physik ein Segen. Selbst die aufwendigsten Physik-Experimente wie der LHC am Cern zwischen Frankreich und der Schweiz tun sich enorm schwer damit, Effekte aufzuspüren, die über die bisher bekannten Theorien hinausgehen, was die Gefahr eines Stillstands für das ganze Forschungsgebiet mit sich bringt. Dabei gibt es in der Astrophysik mit der Dunklen Materie einen unerklärlichen Effekt, der auf neue Physik hindeutet und den Weg weist, wie es gelingen kann, hinter die bekannten Modelle zu blicken und noch genauer zu verstehen, was auf der Ebene des Kleinsten wirklich vor sich geht.

Zusammensetzung immer noch rätselhaft

Woraus Dunkle Materie besteht, ist bislang ein Rätsel. Verschiedene Erklärungsversuche sind vorhanden und stehen im wissenschaftlichen Wettbewerb miteinander, ohne dass sich bisher eine klare Präferenz feststellen lässt. Eine Reihe von Großexperimenten soll Klarheit bringen. Der Zugang einiger lässt sich vielleicht am besten mit dem Modeausdruck "High Risk, High Reward" beschreiben. Es sind Experimente, die nach vereinzelt auftretenden, sehr seltenen "Ereignissen" suchen. Gemeint ist damit die Interaktion eines unbekannten Teilchens mit dem Detektor.

Schwächlinge als mögliche Erklärung

Eines dieser hypothetischen Teilchen wird "Wimp" genannt, eine Abkürzung, die für schwach wechselwirkendes, massives Teilchen steht und im Englischen zugleich "Schwächling" bedeutet. Diese Partikel tragen ihre schwere Fassbarkeit also im Namen – ein Zeichen dafür, wie wenig man sonst über sie weiß. Um sie zu messen, werden riesige unterirdische Tanks mit Edelgas gefüllt, in den meisten Fällen Xenon. Umgeben ist der Tank von Fotodetektoren. Vor wenigen Wochen wurde der bisher genaueste derartige Detektor, der auf den Namen Lux-Zeplin hört, in einer ehemaligen Goldmine im US-amerikanischen South Dakota eingeweiht. Diese Detektoren müssen unterirdisch sein, weil die Erde ständig einem Bombardement von (bekannten) Teilchen der kosmischen Strahlung ausgesetzt ist, die auch durch dicke Wände dringen. Erst wenn man diese Teilchen so gut wie möglich abschirmt, werden, so hoffen die Wimp-Experimentatoren, die seltenen Teilchensignaturen sichtbar.

Mysteriöses Signal identifiziert

Vor zwei Jahren wurde am Xenon-Detektor im italienischen Gran Sasso, der den Namen des Gases trägt, von dem er immerhin dreieinhalb Tonnen und damit knapp ein Drittel so viel wie Lux-Zeplin enthält, eine Häufung solcher Signale entdeckt, die sich allen Erklärungsversuchen widersetzte. Erst dieses Jahr gelang es dem Nachfolgeexperiment, den mysteriösen Effekt zu identifizieren. Leider handelte es sich nicht um Dunkle Materie.

Bei den ersten Bildern des James-Webb-Teleskops war auch eine Aufnahme von fernen, von Gravitationslinsen verzerrten Galaxien.
Foto: AP

Nun scheint auf diesem Weg ein wichtiger Schritt vorwärts gelungen: Eine Forschungsgruppe von der Universität Nagoya in Japan hat in Zusammenarbeit mit der Universität Tokyo und der Princeton University einen Weg gefunden, die Verteilung von Dunkler Materie in der absoluten Frühzeit des Universums zu vermessen. Dabei ist man auf einen Widerspruch gestoßen.

Gravitationslinsen

Das Team um Hironao Miyatake nutzte dafür einen Effekt, der erst kürzlich für Begeisterung sorgte, weil er im ersten Bild des James-Webb-Teleskops sichtbar war: Gravitationslinsen. In dem Bild, das an die berühmte "Deep Field"-Aufnahme von Hubble erinnerte, waren langgezogene, pfefferoniartige Gebilde zu sehen.

Dabei handelte es sich um sehr weit entfernte, sehr alte Galaxien, die durch die Schwerkraft näher gelegener Galaxien wie von einer Linse verzerrt wurden. Die Verzerrung ist nur von der Gravitation abhängig und lässt auf die tatsächliche Masse eines leuchtenden Objekts schließen, die sich dann mit Schätzungen der direkt sichtbaren Materie vergleichen lässt. Das ist in etwa so, als würde man das Gewicht einer durchsichtigen Linse abschätzen, indem man ein Bild durch sie betrachtet.

Der Unterschied ist markant (man ist versucht zu sagen, massiv), wie sich auch an anderer Stelle zeigt. So rotieren Galaxien etwa viel zu schnell. Ohne Dunkle Materie würde es sie zerreißen. Etwa 27 Prozent der Materie im Universum macht sich nur durch solche Schwerkrafteffekte bemerkbar, ist mit optischen Teleskopen nicht sichtbar und kann nicht durch die bekannte Physik erklärt werden.

Linsen in der Dunkelheit

Die Messung von Dunkler Materie mit Gravitationslinsen ist aber auf eine genügende Anzahl von Hintergrundobjekten angewiesen, deren Verzerrung Aufschluss über die Stärke der Linse gibt. Bei sehr alten Galaxien kommt diese Methode an ihre Grenzen, weil es kaum weiter entfernte und damit ältere beobachtbare Galaxien gibt – denn je weiter entfernt ein Objekt ist, desto länger braucht sein Licht, um uns zu erreichen. Die ältesten Galaxien, die wir beobachten, sind auch die am weitesten entfernten und leuchtschwächsten. Sie sind quasi Linsen, die nur in die Dunkelheit blicken.

Bisher sei es nur möglich gewesen, Galaxien zu vermessen, die acht bis zehn Milliarden Jahre alt waren, berichten die Forschenden aus Nagoya. Dem Team ist es nun gelungen, die Dunkle Materie in zwölf Milliarden Jahre alten Galaxien genauer zu untersuchen.

Ferne Galaxien lenken durch ihre Masse den Nachhall des Urknalls ab.
Illustration: Reiko Matsushita

Das älteste Licht des Universums als Schlüssel

Dazu bediente es sich eines verblüffenden Tricks. Der Himmel hinter den ältesten bekannten Galaxien ist nämlich nicht vollständig dunkel. Es gibt noch die kosmische Hintergrundstrahlung, den "Nachhall" des Urknalls, das älteste Licht, das wir kennen. Auch diese Strahlung, die ein markantes Muster aufweist, müsste durch Gravitationslinsen verzerrt werden, und zwar auch durch die am weitesten entfernten.

Das Team nutzte für seine Beobachtungen Daten des Hyper Suprime-Cam Survey, eines Beobachtungsprogramms, das mit dem Subaru Telescope mit einem Spiegeldurchmesser von acht Metern auf dem Gipfel des 4.000 Meter hohen Vulkans Mauna Kea in Hawaii durchgeführt wurde.

Klumpen aus der Frühzeit

Die gewonnenen Bilder wurden mit den Daten der kosmischen Hintergrundstrahlung des Planck-Satelliten der Esa verglichen. Dabei gelang es, "Klumpen" von Dunkler Materie zu messen. Es ist bereits seit längerem bekannt, dass Dunkle Materie in der Frühzeit des Universums sich an manchen Stellen verdichtete, um Klumpen zu bilden, an denen sich Material sammelte, wo sich erste Galaxien bildeten. Die Studie aus Japan, die im Fachjournal "Physical Review Letters" veröffentlicht wurde, zeigt nun, dass diese Klumpen scheinbar weniger ausgeprägt sind, als bisherige Modelle vermuten ließen.

Die kosmische Hintergrundstrahlung ist nicht gleichmäßig, sondern weist Muster auf, die auf uralte Masseverteilungen hindeuten.
Foto: AP Photo/ESA Planck Collaboration

"Unser Fund ist noch mit etwas Unsicherheit behaftet", gibt Hironao Miyatake zu. "Aber wenn es stimmt, legt es nahe, dass das bisherige Modell immer fehlerhafter wird, je weiter man in der Zeit zurückgeht." Das könne einen Hinweis auf die Natur der Dunklen Materie geben.

Bisher hat man erst ein Drittel der Daten des Teleskops ausgewertet. Miyatake hofft, künftig sogar 13 Milliarden Jahre in die Vergangenheit blicken zu können. Bis zum Urknall fehlt dann nicht einmal mehr eine Milliarde Jahre.

Das Rennen geht also weiter – mit realistischen Chancen auch für die Schwächlinge unter den Teilchen. (Reinhard Kleindl, 1.8.2022)