"Hinter dem Wort 'Gesundheitspersonal' stehen Menschen, keine Maschinen", erinnert Eva Potura, Gründerin des Vereins Second Victim, Intensivmedizinerin und Anästhesistin, im Gastkommentar anlässlich des Todes der oberösterreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr.

Kerzen in Gedenken an die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr vor dem Gesundheitsministerium in Wien.
Foto: Robert Newald

Ich glaube, ich spreche für Ärztinnen und Ärzte, für Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger, für Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten – für alle, die mit kranken Menschen zu tun haben. Grundsätzlich wollen wir niemandem schaden. First – no harm.

Wir machen unseren Beruf, weil wir gerne für andere Menschen da sind und vielleicht auch ein nüchternes Interesse am menschlichen Körper und dessen Funktionsweisen haben. Lisa-Maria Kellermayr hat als Ärztin für ihre Patientinnen und Patienten getan, was sie konnte. Sie hat sich eingesetzt und war eine der Ersten, die mit der Wirksamkeit von Budesonid, einem Asthmamittel, in der Frühphase von Covid an die Öffentlichkeit gegangen sind. Sie musste laut und stark sein, um – als Frau – nicht überhört zu werden. Die Lorbeeren für diesen Therapieansatz, selbst wenn er nur eventuell Menschen vor einem Krankenhausaufenthalt bewahrt hat, hat sie nicht bekommen.

Ständige Bedrohung

In ständiger Rechtfertigung zu leben, weil man Menschen vor einer Krankheit bewahren möchte – und ihnen keinen Schaden zukommen lassen will –, ist anstrengend. In ständiger Bedrohung zu leben, weil man Menschen vor einer Krankheit bewahren möchte – und ihnen keinen Schaden zukommen lassen will –, ist zermürbend. In ständiger Bedrohung und Rechtfertigung unter Existenzangst zu leben kann kaputtmachen.

Die Kultur, die Bedrohung zulässt – nicht nur zulässt, sondern als adäquaten Diskurs legitimiert – und Rechtfertigung für wissenschaftlich belegtes Handeln verlangt sowie Rechtfertigung für das Aufzeigen der Bedrohung, eine Kultur, die einen Schuldigen sucht, die das Opfer zum Täter macht, steht hinter den Gräben in der Gesellschaft, die zum Grab für Lisa-Maria Kellermayr führten.

"Wir wollen eine nachhaltige Kulturänderung."

Psychisch auffällig. Hysterisch. Geltungsdrang. Medienpräsenz. Eigenes Fortkommen. Unsympathisch. All das liest und hört man über sie. In diesen Tagen werden wir noch viel über sie zu lesen bekommen, wichtige Personen werden sich äußern und das Beileid bekunden, bevor das Schweigen und die Leere und das Vergessen eintreten. Wer will sich denn damit beschäftigen?

Wir wollen eine nachhaltige Kulturänderung. Im medizinischen System – wie auch in unserer Gesellschaft. Dafür muss man lautstark eintreten.

Wir wissen, dass die Suizidrate bei Medizinerinnen und Medizinern empirisch belegt höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. Die Selbsttötungsraten sind nach den Ergebnissen einer von Eva S. Schernhammer und Graham A. Colditz durchgeführten Metaanalyse von 14 internationalen Studien bei Medizinern 1,3- bis 3,4-fach, bei Medizinerinnen sogar 2,5- bis 5,7-fach höher als bei vergleichbaren Nichtmedizinerinnen. Die Geschlechterverteilung bei den Ärztinnen und Ärzten ist interessanterweise anders als in der Allgemeinbevölkerung "ausgewogen".

Großer Handlungsbedarf

Hier besteht immenser Handlungsbedarf. Deshalb gibt es auch den Verein "Second Victim – Mensch bleiben – kein Opfer". Hinter dem Wort "Gesundheitspersonal" stehen Menschen, keine Maschinen. Wir wollen auch keine Opfer der Gesellschaft sein oder unseres eigenen Handelns. Wir sind Menschen. Menschen, die ihren Rucksack tragen. Menschen, deren Rucksack vielleicht zu schwer wird. Die ihn nicht abstellen können, wenn man in aller Öffentlichkeit als (selbst) schuldig hingestellt wird – wo man doch nur laut und stark war. Ruhig und geduckt in der Öffentlichkeit – dann wäre der Frau vielleicht geholfen worden.

Wir wissen nicht, was in dem Rucksack war, der Lisa-Maria Kellermayr erdrückt hat. Es ist jetzt auch völlig egal. Wir als Gesellschaft – in dieser Kultur des Fingerzeigens und der Gräben – haben ihr nicht geholfen, den Rucksack ein Stück weit zu tragen. (Eva Potura, 1.8.2022)